Mord, Totschlag, Bodenturnen

■ Der Schlachthof war eine Woche lang Schauplatz des beachtlichen Jugendtheaterfestivals „Explosive“ / Ein selektiver Festivalbericht

„Was macht mein Vater? – Das weiß ich nicht. Was mache ich? – Das weiß er nicht“, heißt es in einer der wenigen Textpassagen. Erwachsenen- und Jugendwelt koexistieren parallel, Schnittstellen gibt es keine. Musik und Lebensgefühl der Jugendlichen ist den Erwachsenen ebenso fremd wie dem Nachwuchs die Arbeitswelt der Eltern. „Komosha“ des Speelteaters Gent beschreibt die Funktionsweisen dieser unterschiedlichen Lebenswelten, stellt sie in Gruppenprozessen zwischen Konkurrenz, Isolation und der Suche nach Aufmerksamkeit dar. Die Inszenierung überzeugt mit Spielfreude. Rasant wird Szene an Szene gereiht, entsteht die angekündigte Bild- und Tonfolge mit 140 bpm – nicht elektronisch, sondern mithilfe zweier Drumsets, deren Trommler sich als running gag gegenseitig duellieren. Überhaupt duellieren sich die sieben DarstellerInnen ständig – mal rappend, mal mit Blicken, dann gibt es Kung-Fu und Wrestling, parodiertes Macho-Gehabe. Das Publikum goutierte diese atemlose tour de force durch die zeitgenössische Jugendkultur immer wieder mit Szenenapplaus – zurecht.

Die Abende zwei und drei zeigten, wie man sich in einer Generalmetapher verheddern kann. „Flugversuche“ der italienischen Kompanie 'MUK theatre of silence' beginnt vielversprechend. Geschickt wird der Einstieg um die Pole Stille und Krach herumgebaut. Ein Spieler sitzt im Vordergrund auf einem Hocker. Der Spot auf ihn gerichtet, liegt der Rest des Raums im Dunkel. Eine Geschichte von Sehnsüchten und Verzweiflung. Er erzählt mit den Händen. Dann ist alles ein großes Chaos. Unüberschaubare Bewegung überall. Und über allem ein zusammengesampleter, brüchiger Soundtrack. Um zur Ruhe zu finden, braucht es schon eine Utopie. Und die glaubt man in der Vogelmetapher zu finden. Was gründlich mißlingt. Alles läuft auf die unvermeidliche Frage hinaus, warum wir Menschen es nicht wie die Vögel machen. Bitte? Die wissen doch gar nichts von der sogenannten Freiheit, die wir ihnen immer andichten. Darwinismus pur, wenn man so will.

Der Abend des polnischen Ensembles „Forma Theatre“ gab Kunde von der Poesie der Klappstühle. Immer wieder kommen die in „Angst vor der Freiheit“ zum Einsatz. als Sitzgelegenheit, Folterinstrument oder Klangquelle. Eine Frau sitzt da, eine Mullbinde um den Kopf gewickelt.

Ein Puppenwesen, das auf Zurichtung wartet. Andere treten hinzu und gießen einen gekonnt verfremdeten Wortschwall über ihr aus. Sie kriechen ihr unters Kleid oder stehen stöhnend ein paar Schritte entfernt. Um Liebe geht es, um Sex. Und um die Gleichzeitigkeit von Spaß und Zwang. Unter weitgehendem Verzicht auf Requisiten und gesprochenen Text entwirft das Ensemble einen Kosmos zwischen Freude und Verunsicherung. Vorstadttrostlosigkeit wird angedeutet. Gerät der Lebensrhythmus der schematisch gezeichneten Figuren auch gehörig aus dem Takt, das Spiel des Ensembles bleibt beständig konzentriert. So entstehen Bilder, die immer wieder auf eines zurückommen: Gummibänder. Spinnennetzartig durchziehen sie den Raum. Erinnerung an Kinderspiele. An Gummibändern zieht eine junge Frau einen Kinderwagen hinter sich her. Der folgt ihren Schritten, gnadenlos, wie es scheint. Später sind es zwei halb zerfetzte Babypuppen. Erst am Ende werden die Nabelschnüre gekappt. Es sind die Bänder, mit denen die AkteurInnen per Jacke und Bügel verbunden sind. Erwachsen geworden? Vielleicht. Beeindruckend.

Noch ein düsteres Stück gibt's bei „Curry, Sand und Eigelb“ aus Hamburg. „Am Rande des Gletschers tanze ich meine Pirouetten“ zeigt Beziehungsstreß im Schnelldurchlauf. Die Frauen tragen lange Kleider, die Männer tragen Uniform, graue Hose, weißes Hemd. An Grausamkeit und Einfallsreichtum, den anderen zu reizen und zu demütigen, stehen sie einander in nichts nach. Gehversuche, Scheitern. Taumeln, Stolpern, Krabbeln, Kriechen, Zittern. Zur Begleitung industrial noise aus den Lautsprechern. Es wird gerempelt, gerungen, getrampelt. Manchmal sieht es arg nach Bodenturnen aus. Per Kamera wird das Liebesspiel zweier Pärchen eingefangen und direkt auf eine Videowand projiziert. Liebesspiel wird zu Mord und Totschlag – ohne Theaterblut. Ein Gewaltporno, live. Der Voyeur blickt selbst in die Kamera und erschrickt – das ist ihm dann doch zu persönlich.

Tim Ingold/Tim Schomacker