EU-Grundrechtecharta weichgespült

■ Beim EU-Gipfel in Köln setzten sich die Skeptiker durch: Erst Ende 2000 soll endgültiger Entwurf der Charta vorgelegt werden

Köln (taz) – Beim EU-Gipfel in Köln blieben die Bürger außen vor. Mit gewaltigem Sicherheitsaufwand schirmten die Regierungschefs der Mitgliedstaaten sich von der Masse ihrer Wähler ab. Und auch auf rechtlicher Ebene gilt bis heute: Die EU bietet für ihre Bürger keinen Ansprechpartner. Wer seine Grundrechte verletzt sieht, muß die nationalen Institutionen anrufen. Die Europäische Union bietet zwar eine gemeinsame Währung, nicht aber durchweg gemeinsame Politik. Seit Jahren versucht die EU, das zu ändern und die Frage ihrer Rechtspersönlichkeit zu klären. Bislang kann zwar der Europäische Rat eine Verletzung der Grundrechte feststellen, sofern sie „schwerwiegend und anhaltend“ ist, doch etwa vor dem Europäischen Gerichtshof bleibt es dem einzelnen EU-Bürger versagt, seine Recht einzuklagen.

Auf Initiative der deutschen Ratsspitze und mit Unterstützung Frankreichs befaßten die Repräsentanten der EU sich nun Ende vergangener Woche bei ihrem Gipfeltreffen in Köln mit einer Grundrechtecharta. Diese sollte nach den Vorstellungen der deutschen Ratspräsidenten Gerhard Schröder und Joschka Fischer den existierenden Verträgen vorangestellt werden, um den EU-Bürgern künftig Schutz und Einklagbarkeit ihrer Freiheits- und Gleichheitsrechte zu gewähren. Aber bereits zu Beginn des Gipfels zeichneten sich sehr unterschiedlichen Positionen ab: Während Großbritannien darauf beharrte, daß es „keinen rechtlich bindenden Text“ geben solle, monierte der griechische Außenminister Papandreou eben diesen Status quo. Er stellte klar, daß es unter den Mitgliedstaaten verschiedene Auffassungen darüber gibt, ob die Grundrechtscharta als bürgernahe Übersetzung bestehender Vertragstexte oder als gänzliche Neuformulierung gedacht ist.

Aus englischen Delegationskreisen hieß es dazu: „Wir haben die Verträge; eine Charta soll nicht mehr sein als eine politische Deklaration.“ Papandreou hingegen forderte eine Instanz, an die europäische Bürger sich mit ihren Forderungen direkt wenden könnten. Eine Charta käme nicht aus „ohne Institutionen zu ihrer Implementierung und Überwachung“.

Auch der designierte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi setzte sich für einen Ansprechpartner ein. Er will im Zuge der institutionellen Reformen einen von zwei Vizepräsidenten der Kommission als „Bürgerbeauftragten“ ernennen. Dieser Vize soll auch für den Kontakt zum Europäischen Parlament zuständig sein. Dessen scheidender Präsident José Maria Gil-Robles äußerte sich zu der Grundrechtecharta diplomatisch: Im Parlament sei die Initiative der Deutschen auf „positive Akzeptanz“ gestoßen. Zugleich wies er auf die bereits erreichten Angleichungen europäischer Gesetzgebung hin – etwa beim Familienrecht. Direkte Einflußnahme hielt Gil-Robles allerdings für „nicht nützlich“.

Nach zähen, vom Kosovo-Krieg überlagerten und verzögerten Verhandlungen setzte sich dann die skeptischere Seite durch: Im Abschlußkommuniqué der 15 EU-Ratsmitglieder heißt es, die bereits geltenden Grundrechte sollten „in einer Charta zusammengefaßt und dadurch sichtbarer gemacht werden“. Bis zu seiner Sondertagung im Oktober 1999 beauftragte der Europäische Rat ein Gremium aus nationalen Vertretern, dem Präsidenten der Kommission und Mitgliedern des Europäischen Parlaments, um „die Voraussetzungen für die Umsetzung dieses Beschlusses zu schaffen“. Erst Ende 2000 soll das Gremium einen endgültigen Entwurf vorlegen. „Danach wird zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls auf welche Weise die Charta in die Veträge aufgenommen werden sollte.“

Von einer Neuformulierung ist also keine Rede mehr. Die Frage der allgemeinen politischen Repräsentierung des Wirtschaftsriesen EU, der seit Köln auch einen Vertreter seiner Außen- und Sicherheitspolitik hat, ist erneut vertagt. Sebastian Sedlmayr