Die argentinischen Bayern

Die Unbesiegbarkeit ist dahin, dennoch werden die Boca Juniors vorzeitig argentinischer Meister und sehen nun dem obligatorischen Ausverkauf entgegen  ■   Aus Buenos Aires Ingo Malcher

Ob Wahlsiege, Generalstreiks oder Fußballmeisterschaften. Wer etwas zu feiern hat, der zieht in Buenos Aires zum Obelisken – ein schmuckloser langer Stab, der in den Himmel reicht. Hier kreuzt die vielbesungene Avenida Corrientes den nach Ansicht der Argentinier breitesten Boulevard der Welt, die Avenida Nueve de Julio. Am Sonntag verloren die Boca Juniors, der ehemalige Club von Diego Maradona, gegen César Luis Menottis Independiente mit 0:4. Dennoch wurde der Verkehr am Obelisken lahmgelegt, der Platz färbte sich in den Farben Blau-Gelb, Autokorsos schoben sich durch die Stadt, Linienbusse wurden von durchgedrehten Fans entführt: Die Boca Juniors waren argentinischer Meister.

Alle zum Obelisken, lautete der Befehl. Dort wurde getanzt gehüpft und vor allem getrunken – trotz winterlicher Temperaturen um die acht Grad. Als ob es nicht schon jeder wüßte, sangen sie: „Yo soyyyyy de Boca“ – ich bin von Boca. Und dann der Stadionschlachtruf: „Oleeeeeolllleeeolllleee, cada dia te quiero mas“ – jeden Tag liebe ich dich mehr.

Es gab in dieser Saison nichts, was die Mannschaft des weißgelockten Trainers Carlos Bianchi hätte aufhalten können, auch nicht der Erzrivale River Plate, bei dem der Schmerz unendlich ist. Zuerst schied man ruhmlos gegen Palmeiras São Paulo aus der Copa Libertadores aus, der lateinamerikanischen Champions League, dann die Pleite in der Meisterschaft. Am Ende des Jahres wird Trainer Ramón Diaz vermutlich seinen geliebten Club verlassen. Nachdem ihm fast die ganze Mannschaft nach Europa verkauft wurde, bekam er keinen Fuß mehr auf den Boden. Marcelo Salas, Hernan Crespo, Daniel Ortega, die Stars der italienischen Liga, sie alle sind unter ihm groß geworden. Unvergessen die Momente, als River vor wenigen Jahren die Copa Libertadores gewann, die Supercopa und gleich dreimal hintereinander Meister wurde. Doch diese Zeiten sind endgültig vorbei, und River muß bei null anfangen. Sehr zur Freude der Boca-Anhänger, die allergisch reagieren, wenn sie das rot-weiß-schwarze River-Trikot nur von weitem sehen.

Bei Boca war die ganze Saison Volksfest, die Mannschaft das Bayern München der argentinischen Liga. Kein einziges Spiel hat sie verloren, nur das letzte gegen Independiente, aber wen interessierte das schon, da kurz zuvor River Plate durch die Heimniederlage gegen Racing zwei Spieltage vor Schluß alle Meisterschaftschancen eingebüßt hatte. Davor war Boca 40 Spiele ungeschlagen, das ist argentinischer Rekord.

Wie das bei Wundern so ist, wurde auch ein neuer Star geboren – und schon verkauft. Bocas Stürmer Martin Palermo schießt ein Tor pro Spiel. Obwohl er erst vor kurzem groß rausgekommen ist, fühlt er sich schon als der neue Maradona. Für Interviews will der Mann mit der goldenen Strähne im Haar immense Summen kassieren, und überhaupt spricht er nicht mit jedem. Real Madrid hat ein Vermögen geboten, und nach der gewonnenen Saison wird er seine Koffer packen und in Madrid eine Wohnung suchen.

Trotzdem zweifeln viele an den Qualitäten des Stürmers. Er ist vor allem eins: groß. Die kleinen Verteidiger in Argentinien überragt er um Haupteslänge und hat somit wenig Probleme, an die Kopfbälle zu gelangen. In Europa wird das anders sein. Palermo hat aber noch etwas, was andere Stürmer nicht haben: Glück. Unendlich viel Glück. Oder er hat seine Seele an den Teufel verkauft, der dafür sorgt, daß jeder Ball ins Tor geht. Anders ist vieles nicht zu erklären, zum Beispiel eines seiner Elfmetertore. Palermo läuft an. Kurz vor dem Ball stolpert er. Der Ball prallt gegen seinen Knöchel und geht von dort ins Tor, während der Held auf den Hintern fällt. Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Palermo betätigt sich auch als Exzentriker. Er sah die rote Karte wegen „exzessiven Feierns“ und wurde für einige Spiele gesperrt, weil er den Fans der gegnerischen Mannschaft, die ihn bei jeder Ballberührung auspfiffen, den nackten Hintern entgegenstreckte, nach dem er den Siegtreffer ins Netz gesetzt hatte.

Aber Martin Palermo wird in der nächsten Saison nicht mehr dasein. Sobald jemand in der argentinischen Liga auffällt, klopft schon ein Herr mit Anzug und Aktenkoffer beim Vereinsbüro an und bietet mehrere Millionen für den Mann. Ab nach Europa. Auch ein anderer wird wohl nicht bei Boca bleiben: Trainer Carlos Bianchi. An ihm ist ebenfalls Real Madrid interessiert. Bianchi redet wenig, kann dafür aber das Unmögliche möglich machen. Als er Trainer von Velez Sarsfield war, schlug die Sternstunde der Mannschaft. Die Boca Juniors hatten vor Bianchi lange Zeit nur verloren, an internationale Turniere war nicht zu denken. Immer wieder trat Diego Maradona auf, doch auch das half nichts. Dann unterschrieb Bianchi bei Boca, und seitdem ist Boca unbesiegbar. Die vergangene Saison Meister, und jetzt schon wieder.

Ramón Diaz hätte sich bei River Plate einen anderen Abschied gewünscht. Jetzt geht er auf Arbeitssuche. In fünf Jahren hat River im „Clásico“, dem großen Derby gegen Boca, nie gewonnen. Die Boca-Fans lieben Diaz dafür. In der ganzen Stadt klebten sie Plakate: „Ramón: Bitte sterbe nie. Jeden Tag mag ich dich mehr!“