„Ich speichere und frage nicht viel ...“

Victor Klemperers Tagebücher aus den Jahren 1945 bis 1959 beschreiben den Prozeß der Niederlage eines Mannes, der nach der Befreiung vom Nationalsozialismus all seine Hoffnung in den Kommunismus setzte und enttäuscht wurde  ■   Von Michael Rohrwasser

Viktor Klemperers publizierte Tagebücher reichen von 1918 bis 1959, hinzu kommt ein „Curriculum Vitae“ über die Zeitspanne von 1881 bis 1918, das auf Tagebuchaufzeichnungen ab 1897/1898 basiert (niedergeschrieben in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs). Zusammen sind das weit über fünftausend Seiten, ediert aus noch umfangreicheren Manuskripten. Er hat damit sowohl im zeitlichen Umfang als auch an Ausführlichkeit dem Tagebuchschreiber Thomas Mann den Rang abgelaufen.

Sechzig Jahre, protokolliert mit beispielloser Ausdauer, Akribie und Energie: „Ich speichere u. frage nicht viel“, schreibt Klemperer und spricht von seinen Tagebüchern als „Papiersoldaten“, womit er das bloße Sammeln von Material meint, ohne doch zum Eigentlichen zu vorzustoßen (September 1950). Eines scheint klar: Wer so lange daran festhält, jeden Tag eine Stunde oder mehr dem Tagebuchschreiben zu widmen, für den ist dieses Schreiben zu einer Art von Psychohygiene, zu einem Bestandteil des Lebens geworden.

Nun sind die Klempererschen Tagebücher zwar spannender als die von Thomas Mann (bei denen im Grunde nur die ersten Jahrgänge lesbar sind), aber das will noch nicht viel sagen. Man merkt ihnen schnell an, daß sie nicht im Blick auf eine literarische Öffentlichkeit verfaßt sind; sie schielen nicht auf literarische Effekte, liefern keinen Bogen kleiner Erzählungen, keine luziden Beobachtungen, die stilsicher oder pointenreich angeordnet sind, sie sind alles andere als „hochreflexiv“ (wie ein geschwinderer Rezensent anmerkte), sie kümmern sich auch nicht um Beschönigungen. Man scheint als Leser der späten Tagebücher statt dessen in Belanglosigkeiten zu ertrinken, in wiederkehrenden Wehklagen und ausführlichen Protokollen des Alltäglichen, bis man allmählich merkt, daß hier ein Lebensfaden mit ungeheurer Besessenheit gesponnen wird, ein hastiges Protokoll der Selbstvergewisserung, gegen den eigenen drohenden Untergang geschrieben.

Naive Kommentare zum Kalten Krieg

Etwa ab 1956 werden die Eintragungen immer unregelmäßiger und kürzer; Ende Oktober 1959 versagt seine Hand das Schreiben, am 11. Februar 1960 stirbt Klemperer in Dresden.

Jene Größe, die das Protokoll der Nazi-Jahre gewinnt durch die vielen Denkmäler, die den ums Leben gekommenen Leidensgenossen gesetzt sind, ist hier der Darstellung eines inneren Prozesses der Niederlage gewichen. Klemperers Blick ist beschränkt, vor allem der auf das politische Umfeld; die historischen Zäsuren in der DDR und der Weltgeschichte werfen meist nur schwache Schatten im Tagebuch. Wenn seine Schwägerin ihn einmal den „naivsten Idioten in politics“ nennt (Juli 1950), möchte man dem beinahe zustimmen. Die Kommentare zum Kalten Krieg sind von so abgründiger Naivität (selbst die SED-Legende vom amerikanischen Kartoffelkäfer wird geglaubt, in Bonn regiert „die alte SS“, zu den DDR-Wahlen notiert er: „Vielleicht ist es doch ein ehrlicher Erfolg, denn schließlich: man hätte doch in Massen die Wahl verweigern können“, Oktober 1950), daß letztlich die innere Biographie eines Romanisten, die Geschichte des Nachkriegsalltags eines Akademikerpaares und ein Einblick in den Kulturbetrieb dieser Jahre bleiben – was freilich nicht wenig ist.

Der Tagebuchautor wächst dem Leser nicht „ans Herz“, er wird auch nach 1.400 Lektüre-Seiten nicht sonderlich sympathisch. Das liegt gewiß nicht an seiner ausgebreiteten Eitelkeit, mit der er sich über die Berufungen anderer empört, an seinem unermüdlichen Streben um Titel und Ehren – das mag verdammen, wer übersieht, daß Klemperer, Sohn eines Rabbiners, sich ein zweites Mal hat taufen lassen müssen, um 1920 seine Professur in Dresden anzutreten, oder wer noch nie Tagebuch geschrieben hat – gerade an diesem Punkt durchschaut Klemperer seine eigene Schwäche („die verfluchte vanitas“) und kommentiert das öfters im spöttisch-bitteren Ton. Wir beurteilen keine Autobiographie, wir sind auch nicht vom Autor zur Lektüre eingeladen worden. Das lange Protokoll der Eitelkeiten und Verletzbarkeiten zeugt im Gegenteil von der Schonungslosigkeit des Schreibenden.

Aber es sind die politischen Anmerkungen und Urteile, hinter denen sich ein notorisch Unpolitischer verbirgt, es sind die seltsamen Leseurteile eines schludrig-konservativen Lesers (Oskar Maria Graf: „plattester Naturalismus, rein pathologisches Sexualthema. Wieso ist das modern u. realistisch u. erlaubt?“; Gunther R. Lys: „expressionistisch – wer liest das heute noch?“; Martin Andersen-Nexö: „nichts als krankhafte Sexualität“ etc.), und es sind die Marotten eines elitären Bildungsbürgers („warf ich ein paar Rosinen aus meinem üblichen Kuchen unter das Volk“, Januar 1950), die einer Identifikation mit dem Schreibenden entgegenstehen. Ein langer roter Faden bildet die Empörung über jene, die Fremdwörter falsch benutzen oder nicht richtig auszusprechen vermögen. Die ungebildeten proletarischen Kommunisten, die nun in Gremien sitzen und „deus ex machina“ oder „Tombola“ falsch betonen, machen ihm Bauchschmerzen, er spricht von „Schmach“. Dieser Groll ist wohl auch der Motor für sein berühmtestes Buch, „LTI. Notizbuch eines Philologen“, eine oberflächliche Studie über die Sprache im „Dritten Reich“, die schwächer ist als ihr Ruf: Auch sie spiegelt die politische Blindheit des Verfassers, der dort etwa die engste Verwandtschaft von Zionismus und Nazismus postuliert.

Im Tagebuch 1918 hatte er sich als deutschnationaler Antidemokrat geriert, der alles Volk haßte, später hatte er die Weimarer Republik verdammt und sich als Romanist gefragt, wie ein „so niedriges, so gemeines Volk“ wie die Franzosen eine „so herrliche Literatur“ schaffen konnten. Im August 1950 notiert er dann, im Blick auf das ihm unbekannt gebliebene politische Leben in der Emigration: „Warum weiß ich von alledem gar nichts? Meine Blindheit während der Weimarer Zeit entscheidend für das Curriculum, weil die Blindheit einer ganzen Schicht“.

Nun also will er Schlüsse ziehen aus seiner politischen Inaktivität, nun nähert er sich der KPD und weiß doch nicht recht, ob er damit aufs „richtige Pferd“ setzt. Gewiß ist dies keine Liebesheirat, sondern er trifft (gemeinsam mit seiner Ehefrau) den Entschluß „kalt berechnend“. Er will „ausmisten“ und „säubern“, er will „an den linkesten Flügel der KPD“ (August 1945). Das ist für einen politisch unerfahrenen Verfolgten des Nazi-Regimes nachvollziehbar, merkt Klemperer doch nach dem Mai 1945, wie die Nazis und Mitläufer auch in Dresden wieder ihre Positionen besetzen, wie sich die Unfähigen und Korrupten nach oben arbeiten oder oben bleiben.

Sie lügen alle beide, Osten und Westen

Besonders erbittert ihn der Fall des Historikers Johannes Kühn, der an der Dresdner Universität bleiben darf und später gar einen Ruf nach Leipzig erhält (der ihm selbst verwehrt bleibt), obwohl er nationalsozialistischer Propagandist gewesen ist – Klemperer kämpft vergeblich gegen diese Nachkriegskarriere an. Man kann diesen Groll sehr gut verstehen, er hungert, lebt mit seiner Frau monatelang in der Hauptsache von Brot und Tee, wird als Opfer des Nazi-Regimes nicht anerkannt (dazu ist der Eintritt in eine Partei notwendig). Er will also jener Partei beitreten, der er die energischsten Veränderungen zutraut, und er ist sich sicher: Die KPD „allein drängt wirklich auf radikale Ausschaltung der Nazis“ (November 1945). Es ist die Angst, von der das ganze Nachkriegs-Tagebuch zeugt, Weimar könne sich wiederholen. Dabei dämmert ihm sehr schnell, daß er nach der „Lingua Tertii Imperii“ nun eine „Lingua Quartii Imperii“ verfassen müßte und nicht darf; die ersten Stichworte fallen bereits im Sommer 1945 – aber auch er selbst wird von dieser „LQI“ befallen, wenn er im Blick auf Thomas und Heinrich Mann von „Unnaturen“ spricht, wenn er im Tagebuch Wörter wie „Krebsgeschwulst“ und „Entartung“ verwendet; zwei Kollegen will er sogar „liquidieren“ (setzt das aber in Anführungszeichen).

Immer stärker meldet sich im Tagebuch der „Untergrund“, eine Art von innerer Stimme, die die Wiederkehr des Alten registriert, der die FDJ-Fanfaren mit denen der Hitlerjugend vergleicht, antisemitische Stimmungen in der Regierung wahrnimmt oder feststellt: „es ist wie Nürnberg, aber diesmal bist du selber bei der Partei u. oben – aber dann auch immer: diesmal ist es bei Gott die Sache der Menschheit u. des Guten“ (Juli 1950). Lange sieht er sich auf der richtigen Seite und blendet die störenden Beobachtungen als Nebenerscheinungen aus. Die antisemitische Kampagne vom Januar 1953, die zum Exodus von 450 Mitgliedern der jüdischen Gemeinden aus der DDR führt, interpretiert Klemperer gar als „Triumph meines Zion-Capitels in der LTI“ (Januar 1953). Das Festhalten an der einmal getroffenen Entscheidung, das doppelte Bewußtsein (für welches das Tagebuch ähnlich wie bei seinem Berliner Professorenkollegen Alfred Kantorowicz eine stabilisierende Rolle spielt), zieht sich lange Jahre hin, auch noch die Nachricht von der Entstalinisierung weckt falsche Assoziationen („der Tritt in den Hintern des toten Löwen ... etwas muß er doch gekonnt haben“, Februar 1956), er bleibt bei der einmal gefundenen Formel vom „kleineren Übel“. Die Niederschlagung der ungarischen Revolution und die darauffolgende Verhaftungswelle in der DDR lassen dann auch diese Formel verschwinden. Im Oktober 1957 notiert er: „sie lügen u. stinken alle beide (Osten u. Westen) gar zu sehr“. Und in Peking schreibt er dann: „Das kann nicht Marx' Idealzustand gewesen sein“ (Oktober 1958). Am Ende steht das Eingeständnis, „allen Glauben an rechts und links“ verloren zu haben. „Ich lebe und sterbe als einsamer Feuilletonist“ (März 1959).

Die Bitterkeit des letzten Wortes gilt seinem vergeblichen Versuch, die alten Forschungen wiederaufzunehmen, eine neue Romanistik mitzubegründen, ernsthafter Konkurrent des fast 20 Jahre jüngeren Werner Krauss zu werden, der den heiß ersehnten Lehrstuhl in Leipzig besetzt hält. Statt dessen eilt Klemperer, 70jährig, von Vortrag zu Vortrag, hält Reden im Auftrag des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, der Volkskammer und kleinerer Gremien, schreibt zahllose Artikel für Tageszeitungen und Parteiorgane und eine Menge Vorworte für Klassiker-Ausgaben, er will überall dabei sein: Auch darin spiegelt sich die Gier nach einer Öffentlichkeit, die ihm seit 1935 verwehrt war.

Das Tagebuch schildert die Gehetztheit und Verletzlichkeit eines intellektuellen „Repräsentanten“, während literaturästhetische Reflexionen kaum anzutreffen sind (zu einem Bloch-Vortrag annotiert Klemperer lediglich, daß er „sehr stark impressioniert“ war). Der Hunger nach Wirkung und Bestätigung, die Anstrengung des Wiederanfangs und der verhaltene Streit mit jenen, die er als seine Verbündete ansah, haben ihn am Ende zu Tode erschöpft. Ist das Tagebuch der Nazi-Jahre, das auch in den USA zum Bestseller geworden ist, das kulturhistorische Dokument einer Katastrophe und zugleich eines des Überlebens, so sind die beiden vorliegenden Bände das Dokument einer langen Enttäuschung und eines mühseligen, quälenden Scheiterns.

Bleibt ein Wort zur Ausgabe: Aus 3.600 Typoskriptseiten, Ergebnis einer schwierigen und verdienstvollen Entzifferung, haben die Herausgeber eine knappe (!) Auswahl getroffen, deren gekennzeichnete Auslassungen vor allem Wiederholungen betreffen, wie die Herausgeber betonen, aber auch „persönlichkeitsrechtlichen Gründen“ geschuldet sind. Damit muß man sich abfinden. Ein anderes provoziert Kritik: So voluminös der Anmerkungsteil daherkommt, so verzeichnet er doch, wie es schlechter Brauch ist, allzuoft das Bekannte und läßt das Unbekannte unkommentiert. Warum fällt nur der knappe Satz „Das konnten wir nicht herausfinden“ so schwer?

Victor Klemperer: „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945 – 1959“. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser. Aufbau Verlag, Berlin 1999, 2 Bände im Schuber, 1.800 Seiten, 98 DM