Nein in Jakarta

Ob das nächste Jahrzehnt „pazifisch“ sein wird, entscheidet sich vielleicht in Indonesien. Im Gegensatz zum westlichen Wohlstand für alle kämpfen derzeit alle gegen alle – von Reich bis Arm, von Kommunismus bis Konsumismus. Eine Zustandsbeschreibung  ■   Von Helmut Höge

Es gibt im Indonesischen sieben Wörter für „Ja“ – einige schließen ein „Nein“ mit ein. Und es gibt keine Warteschlangen: Da wirkt noch das alte Wissen um den sozialen Rang eines jeden nach. Ansonsten ist das Land aber seit der südostasiatischen Währungskrise von einer ungeheuren Verneinung erfaßt. Die Riots – dort Amok genannt – führen zu immer neuen Massakern: auch ein Wort, das aus dem Indonesischen stammt.

Die Sprache ist zugleich Teil einer ideologischen Klammer, die den riesigen Archipel, vormals holländische und portugiesische Kolonien, zusammenhält. Man spürt die Spannung beim ersten Spaziergang durch Jakarta. Nicht wegen der Militärposten unter allen Autobahnbrücken und vor öffentlichen Gebäuden. Die postkolonialistische Metropole ist – obwohl Einkaufsmekka bis hin nach Afrika – ganz ungeeignet zum Spazierengehen: Es gibt kaum Bürgersteige.

Weiße und Begüterte bewegen sich per Taxi von Shoppinginsel zu Shoppinginsel, von Hotelkomplex zu touristischem Hotspot. Darunter z. B. der alte Hafen, wo die Edelholzladung der Segelschiffe noch mühsam per Hand gelöscht wird. Auch in den Zigarettenfabriken wird per Hand gedreht: Die Maschinen stehen still, um mehr jungen Frauen Arbeit zu geben.

Die indonesischen Zigaretten enthalten zumeist Gewürznelken von den Molukken, wo das Nelkenmonopol fast bruchlos von der holländischen Compagnie in den Besitz des Suharto-Clans überging. Nun sind aber die Preise „freigegeben“ – Anbauer und Händler atmen auf. Die Währungskrise hat ansonsten die neue Mittelschicht beinahe ausgelöscht, u. a. mußten 46 Banken liquidiert werden.

In den Amoks, seit dem Mai-Massaker des Militärs, wurden Kaufhäuser und Shoppingcenter, die vermeintlich dem Suharto-Clan oder chinesischen Großunternehmern gehörten, zu Hunderten zerstört, in Jakarta brannte das halbe Chinesenviertel ab, es kam zu Massenvergewaltigungen. In den Hauptstadtzeitungen werden taiwanische Keuschheitsgürtel aus Leder annonciert: Bei Berührung ruft eine Tonbandstimme laut um „Hilfe“. Ausgehend von den Universitäten, bildeten sich allerorten Frauengruppen. Junge Chinesen, die nicht noch einmal wehrlose Opfer werden wollen, bewaffneten sich, einige chinesische Intellektuelle haben sich via Internet organisiert.

Bäuerinnen graben besetzte Golfplätze um

Alles ist in Bewegung, und jeder neue „Zusammenstoß“ trägt das Seinige dazu bei. Entlassene Bankangestellte demonstrieren vor den vom Staatsgründer Sukarno einst eigenhändig entworfenen Freiheitsstatuen. In Surabaya streiken die Arbeiter. Nahezu täglich wird irgendwo eine neue Gewerkschaft gegründet. In Solo wurden sämtliche Supermärkte zerstört, zum Einkaufen müssen die Besserverdienenden nun 40 Kilometer weit fahren. Es zirkulieren Riot-Videos, die zeigen, daß nicht so sehr geplündert wurde, sondern verbrannt: Alte Männer mühen sich bis zur Erschöpfung, um aus den Läden nagelneue Motorräder auf die Straße ins Feuer zu zerren. Am Stadtrand wurden Golfplätze besetzt. Das Fernsehen zeigte – freudig – alte Bäuerinnen auf ihren bereits umgegrabenen Beeten.

Überhaupt die Pressefreiheit: Was für ein Vergnügen bereitet die allmorgendliche Zeitungslektüre – seit der Abschaffung der Zensur! Jeder zweite Leserbriefschreiber hat eine Idee, wie das Land zu retten ist. Indonesien ist ansonsten mehr ein Rede- als ein Leseland. Die wenigen Buchläden verdienen den Namen kaum, über 2.000 Buchtitel wurden während der Suharto-Ära verboten, und der Hausarrest des berühmtesten Schriftstellers, Pramoedya Ananta Toer, ist erst kürzlich aufgehoben worden.

Auch vier der seit dem antikommunistischen Massaker 1965 inhaftierten Offiziere kamen frei, außerdem der militärische Führer der Befreiungsorganisation Fretilin in Ost-Timor, Gusmao. Man stellte ihn in Jakarta unter Hausarrest, von wo aus er sofort zum bewaffneten Widerstand aufrief. Einige islamische Jugendorganisationen und Mullahs rufen den „Heiligen Krieg“ aus. Ein besonders einpeitschender Prediger – in Jakarta – heißt bei den Ausländern „Goebbels“.

Die Landstraßen sind „unsicher“ geworden, fast täglich erschießt die Polizei Straßenräuber, die Zeitungen vermelden es knapp. Ausführlicher berichten sie über das Vorgehen der Regierung gegen Firmen und Immobilien, die der Suharto-Familie gehören. Viele „Reiche“ trauen sich auch mit Auto bei Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus, an den Gartenpforten hängen Schilder mit der Aufschrift: „Einheimische“ (d. h. Nichtchinesen).

Neben Arm gegen Reich entstehen laufend neue blutige Konfliktlinien. Vor allem an den rohstoffreichen, aber dünnbesiedelten Rändern des Inselreiches – in Ost-Timor, Aceh, Ambon, Westkalimantan, Ostkalimantan, Irian Jaya: Dort bekriegt das indonesische Militär die Unabhängigkeitsbewegungen. Die Studenten verlangen den Rückzug des Militärs aus der Politik. Andere Kämpfe artikulieren sich religiös (Christen gegen Muslime) oder ethnisch (eingeborene Dajaks gegen zugewanderte Maduresen), sie können aber auch eine Branche erfassen: wie jüngst auf der friedlich-wohlhabenden Insel Bali, wo die alteingesessenen Straßenhändler gegen die neuen, aus den Unruhegebieten dorthin geflüchteten, „rebellierten“.

Dazwischen wirken immer noch irgendwelche dunklen Kräfte: vom Militär aufgebaute Milizeinheiten, die durch Terror die Wahlen beeinflussen sollen; Unternehmer, die die „Wut der Straße“ auf Geschäfte ihrer Konkurrenz lenken; Kommandogruppen, die der schwarzen Magie verdächtige Mullahs enthaupten ... Hernach konstituieren sich universitäre und internationale Untersuchungskomitees, Runde Tische sowie neue Bevollmächtigte. In den Behörden rotiert das Personalkarussell – man versucht damit den neu entstehenden Machtkonstellationen und Korruptionsuntersuchungsergebnissen gerecht zu werden. Intern ergehen Wahlanweisungen an die Mitarbeiter. Draußen veranstalten die 48 Parteien, von denen 20 angeblich von der Suharto-Partei Golkar gegründet wurden, den Wahlkampf als bunten „Karneval“, wie Auslandskorrespondenten schreiben. Dabei werden en passant gerne die Büros der Regierungspartei angegriffen.

Obwohl ausländische Wahlhilfe verboten ist, stützen japanische Banken, Deutschland und die USA sowie in letzter Minute auch noch die Weltbank die Golkar-Partei und Habibie. In diversen Ministerien eingesetzte Entwicklungshelfer wünschen sich eine „sanfte Militärdiktatur – für den Übergang“.

Partei ergreifen bis zur Massenschlägerei

Ein Bus mit Fußballfans wird statt ins Stadion auf den Campus einer Universität geleitet, die Folge ist eine Massenschlägerei. Regelmäßig kämpfen Highschool-Schüler gegen Schüler einer anderen Schule, einmal sterben dabei zwölf Schüler. In Mitteljava befehden sich Jugendliche „verfeindeter“ Dörfer (32 Verletzte). Der Bürgerkrieg erfaßt nach und nach alle sozialen Gruppen. Im Athen des Solon war dies sogar Bürgerpflicht: Jeder hatte Partei zu ergreifen – im Konfliktfall. Die malaiisch-javanische Kultur ist bedeutend älter – und hat bisher noch alles aus dem Westen integriert: Hinduismus, Buddhismus, Islam, den calvinistischen und den katholischen Kolonialismus, Kommunismus, ferner Tourismus und Konsumis- mus ... Unterdessen wandelten Plantagenwirtschaft nebst Brandrodung, Bergbau und Industrialisierung ein Dorf nach dem anderen und viele der Ethnien in moderne Manövriermasse. Bei ihrer Entmischung tauchen nun alle alten Rechnungen und Toten wieder auf, es werden Exhumierungskommissionen entsendet und auch die alten Kriegskostüme ausgegraben. Die Flüchtlingslager organisieren sich als Dauereinrichtungen.

Der halbbankrotte Zentralstaat reagiert immer kurzatmiger. Hier verhaftet man die sich an den Supermärkten treffenden und per Handys prostituierenden Teenager. Dort werden die Schwarzschürfer auf den Gold- und Diamantenfeldern der multinationalen Konzerne nicht mehr verfolgt, sie sollen nun sogar über ein Sonderprogramm in Kooperativen „produzieren“. Einen Shooting-Star aus der „Scene“ der Nichtregierungsorganisationen, Sasono, machte man zum Minister für kleine und mittlere Unternehmen: Den islamisch-engagierten Intellektuellen bezeichnet die chinesische Auslandspresse als „gefährlichsten Mann Asiens“. Die Reichen fliehen nach Australien und Singapur, die Ärmeren in die Hafenstädte und nach Jakarta.

Die europäischen Revolutionen waren, abgesehen von den feindlichen Heeren ringsum, vor allem vom bäuerlichen Widerstand – der Vendée und den Kosakenrepubliken –, bedroht: die Partikularität, das war ihre Stärke und Schwäche zugleich. Im indonesischen Bürgerkrieg sind jetzt die nationalen Kräfte in der Defensive. Der Staat zerfällt ähnlich wie die Sowjetunion, Jugoslawien und – wohl bald – auch Birma. Statt der monarchischen Zentralperspektive entsteht ein synarchisches Feld. Für die Anhänger umfassender Liberalisierung ist dies bloß ein „schmerzhafter Gesundungsprozeß“, für ehemalige Befreiungstheologen dagegen Ausdruck der immer unmenschlicher werdenden „Globalisierung“. Der Ausgang der gestrigen Parlamentswahl bedeutet hierbei nur eine Atempause – im Rahmen der alten „Kommunikation“. Insofern ist die von westlichen Kommentatoren beschworene Wahl in Indonesien – zwischen „Demokratie“ und „Krise“ – ein und dasselbe.

Ende April beteiligte sich die javanische Künstlerin Arahmaiani an einer Ausstellung im Berliner Postfuhramt mit einer Installation, in der sie die Vergewaltigungen thematisierte. Die Veranstalter hatten sie für 20 Tage eingeladen, sie flog jedoch nach einer Woche wieder zurück nach Jakarta: „Was dort jetzt entschieden wird, betrifft mein Leben“, sagte sie und meinte damit nicht den Wahlausgang. Eher war ihr an „Basisaktivitäten“ und den Diskussionen über kollektive Existenzformen gelegen.

Von den früher gerne im Planet Hollywood und im Hardrock-Café verkehrenden Künstlern haben nicht wenige sogenannte Zelt-Cafés – in öffentlichen Grünanlagen – eröffnet. Einige werden bereits wegen ihrer „Küche“ gerühmt – und wegen ihres Informationsgehaltes. Letzte Meldungen: Einem General wurden alle deutschen Schäferhunde aus seinem Zwinger geklaut. Einige Westberater erzählen, ihr Hauspersonal habe sich an der Erstürmung eines Einkaufszentrums beteiligt: „Jetzt haben wir Toilettenpapier und Pampers bis zum Jahr 2004.“ Und junge Hausbesetzer klagen: „Es gibt zu viele unter uns, die nicht squatten können – und sich bereits von einem Stuhl korrumpieren lassen.“