Diesseits vom Paradies

■ Unterwegs im Gitterwerk der Neuzeit: In Düsseldorf fügen sich jetzt die städtischen Ensembles von Berenice Abbott nahtlos an Beat Streulis bewegte Frauen und Männer

Als der englische Arzt William Harvey 1628 seine Anatomische Abhandlung über die Bewegung des Herzens und des Blutes schrieb, mag er nicht geahnt haben, daß er damit der Stadtplanung des 18. Jahrhunderts eine neue Richtung geben würde. Harveys Erkenntnisse über Blutzirkulation und Atmung zeigten: Das Herz war nicht länger der Sitz der Seele, sondern eine Pumpe, deren reibungsloses Funktionieren für die Maschine Körper unerläßlich war. Die stete Bewegung des Blutes als Quell des Lebens veränderte die medizinische Erkenntnis nach und nach: erst die Körperpraktiken und schließlich auch das Erscheinungsbild der Städte, die von diesen Körpern bewohnt wurden, so die Theorie des amerikanischen Soziologen Richard Sennett.

Berenice Abbott, die in Paris als Assistentin Man Rays ihr Handwerk gelernt und sich dann als Porträtfotografin einen Namen gemacht hatte, ging 1929 nach New York zurück, wo sie augenblicklich von einer phantastischen Leidenschaft für die in rasantem Aufbau befindliche Metropole erfaßt wurde. Was der von ihr verehrte Eugène Atget für das Paris der Jahrhundertwende war, wollte sie für das moderne New York werden: eine Chronistin des fortwährenden Wandels, eine Bildersucherin.

Doch die Suche gestaltet sich zunächst schwierig. Für das ehrgeizige Projekt fehlen Abbott die finanziellen und organisatorischen Mittel. Rettung bringt 1935 ihre Aufnahme in das Federal Arts Project (FAP), ein Arbeitsbeschaffungsprogramm der Works Progress Administration, das im Rahmen des Rooseveltschen New Deal über fünftausend Künstlern das Überleben in der Depressionszeit ermöglichte. Abbott erhält ein wöchentliches Gehalt, einen Mitarbeiterstab und schließlich auch einen Wagen. In den nächsten vier Jahren entstehen so Hunderte von Fotos für ihr Projekt „Changing New York“, von denen 305 auf der gleichnamigen Ausstellung am 20. Oktober 1937 gezeigt werden.

Die Fotografin beginnt ihre Spurensuche in Downtown, wo der beispiellose Bauboom am deutlichsten sichtbar wird. Vor allem das Gebiet um die Wall Street und der City Hall District wurden plötzlich bestimmt von den schlanken Art-deco-Silhouetten der neuen Wolkenkratzer, mit dramatischen Folgen: Straßen verwandelten sich in schattige Schluchten, Statuen des 19. Jahrhunderts wie die DePeysters oder John Watts standen plötzlich recht verloren vor den neuen Fassaden. Abbotts berühmtes Foto des Frachters Theoline im Hafen an der South Street zeigt besonders deutlich den Kontrast von Alt und Neu: Der heute wie eine historische Dekoration anmutende Schoner läuft in den Hafen am Hudson ein; hoch über dem Gewirr aus Masten und Segeln erhebt sich in majestätischer Ordnung die neue Skyline Manhattans.

Bewegung als Motor des urbanen Lebens

Doch auch ärmere Viertel wie die Lower East Side mit ihren alten Mietskasernen und dem baufälligen Hafengebiet interessierten Abbott. In Midtown Manhattan fand sich das Diktat der Bewegung als Motor des urbanen Lebens am umfassendsten wieder, wie Abbotts Fotos zeigen: Straßenzüge, Hochbrücken, in deren Schatten sich Menschen und Autos bewegen, Parkplätze – und natürlich die elegant geschwungene Greyhound-Busstation. Individuelle Mobilität war, wie Richard Sennett in „Fleisch und Stein“ nachweist, mit dem Anbruch der Aufklärung als Wert an sich längst zum städtebaulichen Gestaltungsprinzip geworden, doch nirgends wird sie so gefeiert wie im Manhattan der dreißiger Jahre.

Allerdings waren gerade die Möglichkeiten, das bewegte New York mit seinen Menschenmassen und den pulsierenden Straßen auf Film zu bannen, für Abbott begrenzt. Wie ihr Vorbild Atget benutzte sie für den Großteil ihrer Aufnahmen eine 18 x 24 cm-Fachkamera, die, zum großen Bedauern der Fotografin, ein spontaneres Arbeiten durch lange Belichtungszeiten und extreme Unhandlichkeit unmöglich machte. Erst nachdem ein Großteil der Fotos für „Changing New York“ fertiggestellt war, stellte ihr das FAP zwei Kleinbildkameras zur Verfügung. „Tempo der Stadt“ heißen denn auch zwei bekannte Kleinbildaufnahmen aus dem Jahr 1938. Sie scheinen anzuknüpfen an die Arbeiten des Schweizers Beat Streuli, die zeitgleich in der Düsseldorfer Kunsthalle zu sehen sind.

Streuli hält die zufällig gemeinsame Bewegung anonym bleibender einzelner in den Straßen moderner Großstädte wie Sydney oder Tokyo mit dem Teleobjektiv fest. Er zeigt die Bewegung als Essenz des urbanen Lebens, die gänzlich ohne den Blick auf die Häuser, Straßen, Häfen und Brükken auskommt, innerhalb derer sie sich vollzieht. Die Kunsthalle widmet seinen Projektionen, die meterhoch auf die Wände geworfen werden, den Balkon- und Kinosaal. Stärker noch als die Einzelfotografien meist junger Leute vermitteln die sanft ineinandergeblendeten Sequenzen alltäglicher Bewegung ein Gefühl der Vertrautheit: Das kennt man. So bewegt man sich. Die Bewegung in der Anonymität ist zum Kennzeichen urbanen Lebens geworden, und wer da von Entfremdung spricht, verkennt das Prinzip.

Ohne die ewige Bewegung stirbt der Organismus. So fügen sich die städtischen Ensembles der Pionierin Abbott nahtlos in die Darstellung der schlafwandlerisch bewegten Frauen und Männer Streulis, geborgen in der Bewegung und dem Puls der Stadt wie wir, den Kopf staunend zu den riesig aufgeblähten Gesichtern in die Höhe gereckt, dem Klicken und Summen der Diaprojektoren lauschend. Magdalena Kröner

Berenice Abbott, bis 4. Juli, Kunstverein Düsseldorf; Beat Streuli, bis 27. Juni, Kunsthalle Düsseldorf (beide Grabbeplatz 4)