Oliver Twist in China

■ Neu im Kino: Wu Tianmings schwelgerisches Epos „Bian Lian“

Es ist wie in einer Geschichte von Charles Dickens: Ein mißhandeltes Kind aus der Gosse wird von einem alternden Straßenkünstler gekauft, damit dieser seine geheime Kunst an einen Nachfolger vererben kann. Doch der vermeintliche Bengel entpuppt sich als Mädchen, und die dürfen dieses Gewerbe gemäß der Tradition nicht ausüben. So gibt es viele dramatische Verwicklungen mit Bösewichten, die Kinder in dunkelen Straßen verführen, kaltherzigen Mächtigen, vielen Tränen und einem höchst melodramatischen Finale. Der Unterschied zu Dickens: All dies wird nicht aus den Straßen vom London des 19. Jahrhunderts erzählt, sondern in einem chinesischen Film.

Auch dort funktionieren in den Erzählkünsten offensichtlich die gleichen Tricks wie in der europäischen Literatur, wie ja auch die virtuose Pantomime des Königs der Masken uns in diesem Film genauso fasziniert wie die Zuschauer in den chinesischen Gassen. Das unschuldige (und natürlich schöne) Kind und der edle Alte, der erst in einem sehr schmerzhaften Prozeß seine Vorurteile überwinden muß, bis das Kind ihn statt mit „Herr“ mit „Opa“ anreden darf, können im neuen chinesischen Film ganz ähnlich rühren wie die abgerissenen Waisenkinder und geheimnisvollen Wohltäter bei Dickens.

Wer sich vom neuen chinesischen Kino ästhetische Offenbarungen oder politische Zeichen erhofft, wird von „Der König der Masken“ zwangsläufig enttäuscht sein. Dies ist ein ganz traditionell erzählter historischer Film, fast ein Rührstück. Dabei steht hier einer der großen Erfolgsregisseure und Hoffnungsträger des neuen chinesischen Kinos offensichtlich Pate.

Regisseur Wu Tianmings Stil erinnert sehr an Chen Kaige (“Life on a String“, „Lebewohl, meine Konkubine“). Wie dieser kann er mit der Kamera ein überwältigendes historisches Gesellschaftsportrait malen, wie dieser zeigt er gerne in langen Filmsequenzen die traditionelle chinesische Kunst (neben dem Maskenspiel des alten Meisters auch viel Peking Oper), und wie dieser taucht er den Film in eine sehr emotionale Musik. Zhao Ji Ping entwickelt sich mit seinen symphonischen Soundtracks langsam zum Ennio Morricone des fernen Ostens, und in „Bian Lian“ fällt keine Träne ohne den entsprechenden Streichereinsatz, der allerdings jeweils so originell westliche und asiatische Stile vermischt, daß man sich an ihm nie überhört. Wu Tianming erzäht in ruhigen Bildern, die genau der Flußlandschaft angepaßt sind, in der „Bian Lian“ gedreht wurde. Der alte Maskenkünstler und seine Schülerin wohnen auf einem Boot, und auf ihren Fahrten kommen sie immer wieder an einer in den Fels gehauenen Buddha-Statue vorbei. Daß der buddhistische Gleichmut sich wunderbar mit dem überall gleich anrührenden Melodrama verbinden läßt, ist nur einer der überraschenden Maskenwechsel dieses Films. Wilfried Hippen

Kino 46, Originalfassung mit Untertiteln. Do und So-Di 20.30 Uhr, Fr 18.30 Uhr