Und der Geist kreißt noch immer

■ Immerhin der Ort war passend gewählt: Am Dienstag machten sechs alte Herren den Versuch, im Schauspielhaus die geistige Zukunft und Identität Berlins in der Rolle der Metropole zu inszenieren

Auf Diskussionsforen müssen Berliner derzeit eine Menge aushalten: Stichworte wie die neue Rolle der Hauptstadt, Sitz der Regierung, Architektur- sowie Kultur- und Wirtschaftsmetropole dröhnen geradezu in den Ohren. Um den Rausch der Stichworte noch zu erweitern, haben am Dienstag abend sechs – mehrheitlich alte – Männer noch eins draufgelegt: „Ist Berlin eine geistige Metropole?“ wurden in den dritten „Hauptstadtgesprächen“, veranstaltet von der Freien Universität und BMW im Schauspielhaus, die „internationalen Experten“ gefragt. Und der Geist hat gekreißt. Heraus kam, kaum anders zu erwarten bei dem gewaltigen Thema, eine Maus.

Daß Berlin mit den brennenden Problemen der Gegenwart nicht genug hat, sondern sich auch noch um seine „geistige Zukunft und Identität“ kümmern muß, hatte Horst Teltschik, Ex-Kanzlerberater und heute BMW-Vorstand, als Thema angeregt und in seiner Einleitungsrede die Begründung gleich mitgeliefert. Nach dem Fall der Mauer „beschäftigten die Stadt in erster Linie ökonomische und politische Themen“. Die Auseinandersetzung um „intellektuelle Fragen“, die „für ein geistiges Zentrum in Europa“ wichtig wären, seien deshalb auf der Strecke geblieben. Doch „das neue Berlin“ mit seiner Hauptstadtfunktion müsse wieder „geistige Führung übernehmen“. Insbesondere als Tor zum Osten sei es nötig, mit klarem Anspruch, „die Rolle als geistige Metropole wieder anzunehmen“, um bis in die östlichen Nachbarländer hinein zu operieren. Denn dort, so Teltschik, herrsche ein „geistiges Vakuum“.

Doch was Berlin dazu bringt, wieder Metropole des Geistes – wie etwa in den 20er Jahren – zu werden, konnten weder Teltschik noch die anderen Teilnehmer so recht beantworten. Im Gegenteil, der Teltschiksche geistige „Führungsanspruch“ kam ihnen recht geistlos daher. Solange Deutschland dem „Osten den Rücken zeigt“, wie Andrzej Szczypiorski, Schriftsteller aus Warschau, sagte, könne von einem geistigen Metropolenanspruch Berlins keine Rede sein. Dies um so mehr, da die Zeit der Hauptstädte europäischer Kultur und intellektueller Auseinandersetzungen, wie es Paris oder London im 19. Jahrhundert oder Wien, Prag oder Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren, sowieso vorbei sei. „Es gibt heute eine geistige Krise in ganz Europa, der Geist fühlt sich nicht wohl im Wohlstand“, so Szczypiorski.

Den nächsten Kalauer gab György Konrád, Präsident der Akademie der Künste, zum besten. „Was macht eine Weltstadt aus?“ fragte er rhetorisch. „Wenn die Welt da ist“, gab sich der Präsident und Schriftsteller die Antwort. Nur dann fänden „große geistige Anregungen“ statt und „kommt jeden Tag etwas Neues“. Daß Berlin davon noch weit entfernt sei, brauchte Konrád gar nicht mehr zu betonen. Angesichts des Kosovo-Krieges seien die Regeln des Humanismus, der Zivilisation, des Respekts und die Macht des Wortes sowie außer Kraft gesetzt. Geist, quo vadis?

Fritz Stern, vor dem Zweiten Weltkrieg in Breslau geboren und heute Professor an der New Yorker Columbia-Universität, wagte dennoch einen Versuch – und scheiterte. Es sei keine Frage, daß Berlin sich auf dem Weg zu einer geistigen Metropole befinde. Kulturelle Vielfalt sei im Vergleich zu anderen deutschen Städten hier weitaus mehr ausgeprägt. „Doch was machen die Berliner daraus?“ Sie respektierten sich nicht einmal gegenseitig. Statt die Spaltung der Stadt gemeinsam zu überwinden, „habe ich den Eindruck, der Osten und Westen leben sich noch immer auseinander“, sagte der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1999.

Michel Friedman, Frankfurter Rechtsanwalt und Päsidiumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland, wollte da von Metropole gar nicht mehr sprechen. „Berlin ist eine große Stadt“, und ihre Bewohner hätten sich „noch nicht entschieden“, ob sie die Rolle als metropolitane Weltbürger überhaupt spielen wollten. Weder existierten hier eine intellektuelle Streitkultur noch der Mut, diese zu kultivieren. „Störungen“ machten den Berlinern vielmehr Angst, Migranten ebenso. Nur wenn dies als Bestandteil der Stadt akzeptiert würde, könne man vom Beginn einer Metropole reden.

Jürgen Engert, Moderator der Runde, machte da einen letzten Versuch: „Muß man den Geist organisieren?“ fragte er die Runde. Und Szczypiorski, wie alle anderen auch, verneinte. „Jeder ist eine geistige Metropole“, sagte der Pole ironisch, und die alten Männer nickten. Da wußte man, daß ihnen Berlin samt Geist irgendwie gleichgültig geworden war. Rolf Lautenschläger