„Die Menschen warten jetzt auf den Film“

■ Yesim Ustaoglus preisgekrönter Berlinale-Beitrag „Reise zur Sonne“ erhielt bei seiner türkischen Uraufführung auf dem Filmfestival von Istanbul den Publikumspreis. Die Aufführung des Films in kurdischer Sprache ist in den Kinos des Landes kaum mehr zu verhindern

Der Februartag der ersten Vorführung des türkischen Wettbewerbsbeitrags „Reise zur Sonne“ bei der Berlinale fiel ausgerechnet mit dem Versuch einer Gruppe aufgebrachter Kurden zusammen, die israelische Botschaft in Berlin zu besetzen. Auslöser des Vorfalls, bei dem drei Kurden unter bis heute nicht geklärten Umständen den Tod fanden, war der Verdacht, der israelische Geheimdienst Mossad hätte zur Verhaftung Abdullah Öcalans in der griechischen Botschaft in Kenia beigetragen. Entsprechend verlief die Pressekonferenz in äußerst angespannter Atmosphäre ab – und unter den strengsten Sicherheitsvorkehrungen in der Berlinale-Geschichte, seit 1986 Reinhard Hauffs „Stammheim“ den Goldenen Bären gewann. Wenige Tage später wurde auch Yesim Ustaoglus Film mit dem Friedensfilmpreis und den Blauen Engel ausgezeichnet.

An drei miteinander verwobenen, exemplarischen Schicksalen verhandelt „Reise zur Sonne“ die aktuellen politischen, sozialen und kulturellen Probleme der Türkei : Der Kurde Berzan ist vor der Verfolgung aus dem kurdischen Osten geflüchtet, Mehmet ging voller naiver Träume in die Großstadt, und Arzu will sich nicht mit der traditionellen Rolle der Frau bescheiden. Sie alle setzen ihre Hoffnungen auf Istanbul, die Freundschaft und die Liebe, und sie alle werden auf die eine oder andere Art enttäuscht.

Der Film der im osttürkischen Sarikamis geborenen Ustaoglu (38) ist schon deshalb ein Politikum, weil er seit 17 Jahren der erste Film ist, in dem seit „Yol“ wieder Kurdisch gesprochen wird. Auch ansonsten ist „Reise zur Sonne“ unerwartet explizit: Polizeiwillkür und –brutalität werden ebenso gezeigt wie zerstörte kurdische Dörfer. Eine der beklemmendsten Szenen ist der Blick von Mehmet aus einem Hotelzimmer, vor dem Panzer patrouillieren. Nicht nur an dieser Stelle mischt Ustaoglu mit großem Effekt grobkörniges Dokumentarmaterial zwischen die sonst berückend schönen Bilder. Ansonsten spielt die von Jacek Petrycki, der durch seine Arbeit für Kieslowski bekannt wurde, geführte Kamera vor allem die Diskrepanz zwischen dem smoggrauen, feuchten Istanbul und dem staubtrockenen, sonnendurchfluteten weiten Land aus.

Finanziert wurde „Reise zur Sonne“ auch mit niederländischen und deutschen Mitteln, mit Vorabgeldern aus Verleih- und TV-Verträgen. Eine solche Koproduktion ist für die Türkei noch immer ungewöhnlich, aber an die übliche Finanzierung mit öffentlichem Geld war von vornherein nicht zu denken. So sicherte sich das Team eine verhältnismäßig große Unabhängigkeit. to

taz: Im April lief Ihr Film beim Istanbuler Filmfest. Wie war die Publikumsreaktion?

Yesim Ustaoglu: Sehr gut. Der Film gewann den Publikumspreis.

Hatten Sie Angst vor der türkischen Premiere?

Ich hatte sicherlich keine Angst, sonst hätte ich mit dem Film erst gar nicht begonnen. Dann hätte ich nie die Vision gehabt, den Film in der Türkei zu zeigen. Aber es ist sehr wichtig für mich, daß er in der Türkei anläuft, die Leute sollen ihn sehen.

Gab es Diskussionen über die politische Dimension des Films?

Bis jetzt noch nicht. Nach den Vorführungen gab es nur sehr kurze Diskussionen. Das Publikum bestand aus Türken und Kurden, es waren vor allem junge Leute. Die waren nach den Vorführungen so bewegt, fast geschockt, daß sie kaum noch reden konnten.

Hat Sie das überrascht, daß es nach dem Festival keine öffentliche Debatte gab?

Ich hatte schon etwas mehr Nachfragen erwartet, vor allem nach den Preisen, die wir bei der Berlinale gewonnen haben. So gab es die Berichterstattung und ein paar Interviews. Die richtigen Kritiken werden wohl erst zum Start des Films erscheinen.

Wann wird der Film in der Türkei starten?

Wahrscheinlich im Oktober. Wir reden und verhandeln noch.

Was bedeutet es, wenn Sie sagen, Sie verhandeln?

Wir reden mit Verleihern, mit einzelnen Kinos.

Geht es darum zu schneiden?

Das war kein Thema. Es geht allein um technische Dinge. Wie viele Kopien, in welchen Kinos, solche Dinge. Ich würde nie irgendwelche Spekulationen aufkommen lassen, daß ich mich selbst zensiert hätte.

Hat der Filmstart in Deutschland positive Auswirkungen auf die Verleihchancen in der Türkei?

Natürlich ist das Interesse aus anderen Ländern, das sich an Festivalpreisen ablesen läßt, sehr hilfreich. Dadurch ist so etwas Ähnliches wie eine positive Aura um den Film herum entstanden. Die Menschen in der Türkei warten jetzt auf den Film, und es gibt eigentlich keine Möglichkeit mehr, ihn zu verhindern. Vor wenigen Tagen haben wir die offizielle Erlaubnis des Kulturministeriums bekommen, den Film aufführen zu dürfen.

Berzan ist eindeutig Kurde, Mehmet reist in den kurdischen Teil der Türkei, im Film wird kurdisch gesprochen. Aber das Wort Kurde oder Kurdistan fällt kein einziges Mal. Warum haben Sie das so ausdrücklich vermieden?

Ich denke, ich verzichte auf Klischees, um die Wirklichkeit so zu zeigen, wie sie ist. Ich versuche in die Tiefe, in die Details zu gehen, um die Unterschiede zwischen den Identitäten der Charaktere und den verschiedenen Kulturen aufzuzeigen. Man sieht die beiden Protagonisten agieren, man sieht, wie sie sprechen, sich bewegen, wie sie Kurdisch oder Türkisch sprechen. Es ist offensichtlich, es war nicht nötig, das ausdrücklich auszusprechen.

Gerade weil es so offensichtlich ist, wundert es doch, daß das Wort Kurde nicht fällt.

Das ist einfach das normale Leben. Im Film wird ganz natürlich gesprochen, wie auf der Straße. Die Charaktere, ihre Identitäten und Probleme sind fast deckungsgleich mit denen der Darsteller. Deshalb habe ich auch hauptsächlich nichtprofessionelle Schauspieler gecastet.

Die übliche Migrationsrichtung in der Türkei geht von Ost nach West. Die Reise von Mehmet aber führt ihn in den Osten. Dabei wird das Licht immer heller. Ist Ihr Film ein Plädoyer für die asiatischen Wurzeln der Türkei und gegen die westlichen Einflüsse?

Nein. Ich wollte zeigen, daß die Türkei eine zerrissene Gesellschaft ist. Viele Menschen, vor allem die im westlichen Teil leben, haben keine Ahnung, was im Osten vor sich geht, weil sie ihre Informationen nur aus den offiziellen Medien beziehen. Diesem Teil des Publikums will ich die Augen öffnen. Mehmet entdeckt im Film den Osten des Landes, und seine Identität verändert sich. Zu Anfang ist er naiv, am Ende ist er sicherlich sehr traurig, aber auch ein starker, offener Mensch geworden. Er hat eine Menge gelernt. So müßte sich auch ein Teil der türkischen Gesellschaft für den Osten des Landes öffnen.

Was erwarten Sie von der neuen Regierung? Werden sich durch die Beteiligung der Grauen Wölfe auch die Bedingungen für Filmemacher verschlechtern?

Ich weiß es nicht. Natürlich bin ich besorgt. Aber egal, wo man lebt, es gibt immer Restriktionen. Aber niemand kann Künstler aufhalten. Ob in China, im Iran, in Chile unter Pinochet, in Spanien unter Franco, die Kunst findet immer einen Weg. Interview: Thomas Winkler

„Reise zur Sonne“. Regie: Yesim Ustaoglu, mit Nazim Oirix, Newroz Baz, Mizcrin Kapazan, 1999, 104 Min.