Europa gibt es nicht

■ In fünfzehn Ländern Europas wird zwischen Donnerstag und Sonntag gewählt. Quer durch die EU toben fünfzehn Wahlkämpfe. Aus diesem Mosaik wird dann ein neues Europaparlament – nicht gerade ein Garant für die Stärkung der Demokratie innerhalb der EU. Denn Europas Öffentlichkeit ist nicht europäisch. Kaum ein Wähler interessiert sich für mehr als die eigenen nationalen Politiker, kaum ein Kandidat für mehr als die eigene nationale Partei. Kann man so Europa bauen?

Ein Plakat in elf Sprachen: „Stabilitätspakt für den Balkan – wählt PSE!“ Oder: „Krieg beenden. PPE wählen.“ Solche Plakate gibt es sowenig, wie es einen europäischen Wahlkampf gibt. Laut Umfragen wissen die meisten Wahlberechtigten in Europa wissen nicht, welche politische Gruppierung sich hinter dem Kürzel PSE oder PPE verbirgt. 61 Prozent der EU-Bürger wissen nicht einmal, wann die Europawahl stattfindet.

Verdenken kann man es den Wählern kaum. Die Europolitiker können sich nicht einmal im internen Gebrauch auf einheitliche Namen für ihre Fraktionen einigen. So heißt die „Partido de los Socialistas Europeos“ (PSE) auf englisch PES – „Party of European Socialists“.

Ähnlich verwirrend wie die Namen ist die Zusammensetzung der Fraktionen im Europaparlament. Da manche Abgeordnete erst während der Legislaturperiode feststellen, daß sie in der falschen politischen Gruppe gelandet sind, ändert sich die Sitzverteilung zwischen zwei Wahlen häufiger als in nationalen Parlamenten. Gelegentlich entstehen sogar neue Fraktionen: Im Januar 1995 stießen einige skandinavische Grüne zur Vereinigten Europäischen Linken – aus der GUE (Gauche unitaire européenne) wurde die GUE/NGL (mit Nordic Green Left).

Im Juli desselben Jahres taten sich 29 Forza-Italia-Mitglieder mit Griechen, Franzosen, Portugiesen und Iren zusammen und bildeten die „Gruppe Union für Europa“ – UPE. Im November 1996 trennten sich acht portugiesische Sozialdemokraten von der liberalen ELDR. Sie wanderten nicht – wie man hätte vermuten können – zur sozialistischen PSE, sondern zur konservativen Volkspartei.

Kein Wunder, daß sich kein Umfrageinstitut an Prognosen heranwagt, wie das nächste Europaparlament aussehen wird. Es gibt Umfragen im nationalen Rahmen, aber da sie stark schwanken, geben sie vor allem über den Wankelmut der Wähler Auskunft. Die meisten Wähler, die zwischen dem 10. und dem 13. Juni zur Europawahl gehen, stimmen ohnehin nicht über europäische Themen ab. Sie wollen Anerkennung oder Mißbilligung für ihre nationalen Parteien zum Ausdruck bringen. Sehr viel drastischer als bei Länderwahlen verteilen enttäuschte Wählergruppen ihre Denkzettel – es geht ja „nur“ um das Europaparlament.

Die Parteien selbst sind daran nicht unschuldig. Sie erklären Europawahlen zu Testwahlen und machen damit ganz deutlich, daß sie selbst der Sache nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Schaut man nach Deutschland, Frankreich, Großbritanien oder Italien – überall prägen nationale Themen den Wahlkampf.

Selbst in Griechenland, wo die Kosovo-Politik der Nato auf heftige Ablehnung stößt, führt die öffentliche Empörung nicht zu mehr Interesse an der politischen Entwicklung in Europa – im Gegenteil: Nur knapp 32 Prozent der Griechen verfolgen nach einer gerade veröffentlichten Umfrage den Europawahlkampf und wollen sicher wählen gehen. Bei der letzten Wahl 1994 sah das noch ganz anders aus: Die Europa-Euphorie brachte dem Land damals eine in Europa überdurchschnittliche Wahlbeteiligung von 71,2 Prozent.

Allen Umfragen zum Trotz sind die Europarlamentarier davon überzeugt, am Ende würde es doch viele Bürger dazu drängen, ihre Stimme abzugeben. Die Sozialdemokraten Willi Görlach und Spitzenkandidat Klaus Hänsch glauben, daß das Parlament mit seinem Mißtrauensvotum gegen die Brüsseler Kommission in diesem Jahr beim Wähler Pluspunkte gesammelt hat. Der CSU-Abgeordnete Ingo Friedrichs meint gar, die erste Richtungswahl in Europa stehe an: Der Wähler wisse, daß er sich diesmal für „ein Europa des Dirigismus oder der Freiheit“ entscheiden müsse.

Die Zuversicht der Herren wird von Meinungsforschern und Politologen nicht geteilt. Obwohl das Parlament seit der ersten Direktwahl 1979 stetig an politischem Einfluß gewonnen hat, ist die Wahlbeteiligung ebenso stetig zurückgegangen: Von 63 Prozent im europäischen Durchschnitt 1979 auf 57 Prozent bei der letzten Europawahl. Die Brüsseler Korruptionsaffäre wird nach Überzeugung des französischen Politologen Henri Menudier diesen Trend nicht umkehren – im Gegenteil. Die Wähler würden die Parlamentarier nicht als nötige Kontrollinstanz wahrnehmen, sondern sie mit „denen in Brüssel“ in einen Topf werfen.

Der aus dem EU-Parlament ausscheidende Haushaltsexperte Detlev Samland glaubt, europäische Politik lasse sich nicht vermitteln, weil Europa keine Gesichter hat. Er selbst sei in den Ländern, deren Sprache er nicht beherrsche, nicht präsent. Für ihn zeigt sich das verquere Verhältnis der europäischen Öffentlichkeit zur Europapolitik schon in der Ressortaufteilung der Zeitungen. Fast immer würden Europathemen der Außenpolitik zugeschlagen, allenfalls noch dem Wirtschaftsressort. Wenn nicht einmal die Journalisten zur Kenntnis nähmen, daß europäische Politik heute Teil der Innenpolitik sei, wie sollten es dann die Wähler begreifen?

Nicht einmal die Parteien begreifen es. Dabei stehen in den nächsten Monaten jede Menge wichtige Entscheidungen an, die die Union als Ganzes betreffen.

Beispiel eins: Osterweiterung und gemeinsame Strategie für Rußland unter dem Blickwinkel der nuklearen Sicherheit. Auf dem Gipfeltreffen von Köln vor einer Woche machte der Europäische Rat in seiner Abschlußerklärung deutlich, daß Nachrüstung für die Kernkraftwerke in Osteuropa eine wichtige Voraussetzung dafür ist, daß die betreffenden Länder enger an die EU heranrücken können. In Deutschland führt diese Forderung zu heftigen Diskussionen zwischen SPD und Grünen. Eine Auseinandersetzung im europäischen Rahmen findet nicht statt.

Beispiel zwei: Aufrüstung und Wiederaufbauhilfe im Kosovo. In der Kölner Ratserklärung werden verstärkte und abgestimmte Rüstungsanstrengungen, ein Satellitenzentrum und ein Institut für Sicherheitsstudien als nötig für die europäische Verteidigungsidentität gefordert. Eine europäische Öffentlichkeit müßte darüber nachdenken, ob solche Maßnahmen gewollt und erforderlich sind und wer sie bezahlen soll. Auch die Frage, wie der Stabilitätspakt für den Balkan aussehen soll und wer die Wiederaufbauhilfe bezahlt, wäre ein Thema für den Europawahlkampf. Zu streiten wäre weiterhin über die Rolle des neuen „Mr. Außenpolitik“ und seine Kontrolle durch das Parlament; über Romano Prodis Kommissionsreform und den nationalen Postenschacher um Kommissare; um den Zeitplan für die Osterweiterung; um das neue Abgeordnetenstatut zu Diäten und Reisekosten.

Lauter spannende Debatten, die nirgendwo geführt werden. Und so ziert grüne Wahlplakate in Deutschland nicht etwa aus aktuellem Anlaß ein belgisches Hühnerei mit dem belgischen Gütesiegelaufdruck B-PN und dem Spruch: „Ei, was für eine gute Verpackung, dachte das Huhn“. Statt dessen prangt neben der Parole „Ökologisch denken, europäisch handeln“ ein großes Ü – wie „Verts“. Daniela Weingärtner

Die Beteiligung bei Europawahlen ist seit Gründung des Europaparlaments 1979 stetig zurückgegangen