Joschka, der Menschen- fischer

Auf der Abschlußveranstaltung des grünen Europawahlkampfs spielt Joschka Fischer seine messianischen Qualitäten aus. Die Spitzenkandidatin Heide Rühle bleibt unauffällig  ■   Von Patrik Schwarz

Aachen (taz) – „Mörder! Mörder!“ schallt es aus dem Saal. Im Europasaal in Aachen steht Joschka Fischer auf der Bühne und lächelt. Eine ganze Weile ist er damit schon beschäftigt. Und je lauter es im Saal tobt, desto gelassener wird das Lächeln des Außenministers.

„Liebe Freundinnen und Freunde ...“ Die Rufe mischen sich mit Pfiffen. „Mein Problem ist einfach ...“ Der Bundesaußenminister hat ein Problem? Das wollen dann doch einige hören. Für einen Moment ebbt der anbrandende Lärm etwas ab. „Mein Problem ist einfach, daß ich fürchterlich müde bin.“ Jetzt jubeln die Fischer-Fans im Saal, und man hört am Klatschen, daß sie deutlich in der Überzahl sind.

Sie wissen, was des Ministers Müdigkeit besagen soll. Nach den Tagen des Zweifels ist der Frieden wieder nah. Heute mittag noch hat sich der Mann, der jetzt vor ihnen steht, mit den Außenministern der maßgeblichen Mächte auf den Text für eine UNO-Resolution geeinigt. Seht her, sagt der Minister, wenn er von seiner Erschöpfung spricht, bis zur körperlichen Selbstaufgabe habe ich mich für unser Ziel eingesetzt. Seinen vielen Rollen fügt der grüne Leitstern bei dieser Abschlußveranstaltung des Europawahlkampfs eine neue hinzu: Joschka, der Menschenfischer. Seine Gemeinde geht ihm ins Netz.

Die grünen Honoratioren glühen vor Stolz. „Man muß doch mal sagen dürfen, daß er der beliebteste Politiker Deutschlands ist!“ ruft der Moderator des Abends, ein örtlicher Parteifunktionär, ins Saalmikro. Bundesgeschäftsführer Reinhard Bütikofer formuliert nach dem Fischer-Auftritt befriedigt: „Man hätte eine ruhigere, eine argumentativere Veranstaltung haben können, aber bestimmt keine grünere.“

Genau darin könnte das erste Problem der Grünen liegen. 10,1 Prozent erreichte die Partei bei der letzten Europawahl. Interne Schätzungen rechnen diesmal nur mit einer Sechs vor dem Komma. Um nicht völlig einzubrechen, sind die Grünen auf Wechselwähler angewiesen, die sich für innergrüne Auseinandersetzungen nur begrenzt interessieren.

„Die Fraktion wie der Vorstand müssen wegen Kosovo zur Zeit vor allem nach innen diskutieren“, sagt die eher kleine Rothaarige, die in Aachen in der ersten Reihe sitzen darf. Heide Rühle ist an dem Abend weitgehend unbeachtet geblieben. Sie selbst wird das Joschka Fischer kaum verübeln, schließlich verficht sie im Europawahlkampf seine Linie. Doch im Hinblick auf den kommenden Sonntag könnte ihre Unauffälligkeit das zweite Problem der Grünen sein. Immerhin ist Heide Rühle die Spitzenkandidatin für die Europawahl.

Als Bundesgeschäftsführerin hat sie jahrelang „hinter den Kulissen den Laden zusammengehalten“. Entsprechend gut kann sie die Not ihrer Partei einschätzen, in Kriegszeiten selbstbewußt Straßenwahlkampf zu betreiben. „Es ist ganz wichtig, die Kreisverbände zu ermutigen, nicht den Kopf in den Sand zu stecken“, sagt Rühle. So forsch wie im rot-grünen Kriegskabinett bisweilen Weltpolitik betrieben wird, so sanft muß man die eigene Gefolgschaft auf den neuen Kurs einstimmen. „Wir müssen ja die Partei mitnehmen“, sagt Rühle.

Die Kandidatin hält allerdings nichts davon, die Kosovo-Intervention als „Dilemma“ zu beweinen. „Seelenstriptease“, befindet sie knapp und fordert ihre Partei auf, sich klar zu der Intervention der vergangenen Wochen zu bekennen. „Wir verlieren an die SPD, wir verlieren an die Nichtwähler, wir halten diesen Spagat nicht durch.“ Zwangsläufig ist der Stimmenverlust in Rühles Augen nicht. Schließlich handele es sich bei der Kosovo-Debatte nicht um eine innergrüne Angelegenheit, sondern um eine deutsche. „Die Frage ist, wie kann man das unseren Wählern vermitteln?“

Im Saal toben jetzt Joschka-Freunde und -Feinde gleichermaßen. Der Menschenfischer gibt eine letzte Probe seiner Kunst. „Kommt doch mal her! Laßt uns doch mal diskutieren. Dann muß ich nicht soviel selber machen“, ruft er seinen Widersachern zu – über die Köpfe der Bodyguards hinweg. „Ich möchte mich bei Joschka bedanken, daß er mir die Gelegenheit gibt, ein paar Worte zu sagen“, entfährt es dem braven, älteren Aktivisten, der schließlich auf der Bühne landet und sich als DKP-Mitglied vorstellt. Ein kurzer Wortwechsel folgt, dann sagt der Minister „Ich danke dir“ und gibt dem Gast einen Klaps auf die Schulter.

„Welcher Außenminister hätte sowas jemals gemacht, also echt!“ sagt hinterher Vorstandssprecherin Antje Radcke. Zum Abschied verneigt sich Fischer tief in Richtung der Störer, Kußhände inklusive. Joschka Gottessohn liebt eben die schwarzen Schafe mehr als die braven Lämmer.