Wer zum Teufel war noch Marie?

■ In der Galerie Reinfeld zeigt Hans Sieverding Bilder, die zum Vergessen einladen

Zwischen dem Inhalt der meisten Portemonnaies und den verlockenden Angeboten an Galerienwänden herrscht nicht selten ein gespanntes Verhältnis. Ein Bild kaufen bedeutet in der Regel, notgedrungen auf ein anderes, nicht weniger begehrenswertes verzichten zu müssen. Kein Zustand, der auf Dauer große Zufriedenheit aufkommen läßt. Es sei denn, man hat klug und weitsichtig ausgewählt und ein Werk des Malers Hans Sieverding erstanden.

Kaum anzunehmen, daß der 1937 in Oldenburg geborene und auf einem Schloß im Odenwald residierende Künstler justament jene klammen KäuferInnenschichten im Sinn hatte, als er damit begann, Schicht um Schicht um Schicht Acrylfarbe auf Leinwände aufzutragen. Nichtsdestotrotz künden Sieverdings in der Galerie Reinfeld ausgestellten Arbeiten an der Oberfläche immer davon, daß dem neugierigen Blick vieles von dem verborgen bleibt, was das Bild in den Anfängen auszeichnete.

Immerhin: mehr oder weniger große Kratzspuren lichten zuweilen den Schleier des letzten Auftrags, öffnen kleine Fenster inmitten der zumeist erdfarbenen Oberfläche. Man blickt hindurch – doch was man sieht, läßt einen so klug zurück als wie zuvor. Nicht sehr kommunikativ, was Hans Sieverding da mit dem Betrachtenden treibt. Aber womöglich ist es eben genau das, was er nach jahrzentelanger Arbeit und Hunderten von Ausstellungen, die ihn um den ganzen Globus und durch ungezählte Galerien und Kunstvereine geführt haben, zu sagen hat: daß nämlich die Erinnerung verblaßt, an Konturen verliert, und die Unschärfe das wenige ist, was sich als Gewißheit im Gedächtnis hält. War es gestern? Hieß sie nicht Marie? Man weiß es halt nie.

Dieser Eindruck verstärkt sich durch die s/w-Abbildungen und Zeitungsschnipsel, die Sieverding in viele seiner Arbeiten integriert hat. Das Foto und das Wort, mithin jene Garanten der Authentizität, denen wir so hemmungslos vertrauen, weil sie uns vorgaukeln, die Welt zu erfassen, wie sie objektiv ist, verlieren in Sieverdings Collagen jede erhabene Aura. Dort ein verwackelter Mann, hier ein allenfalls schemenhaft erkennbarer Frauenkopf, da halb verkohlte und vergilbte Zeitungsschnipsel – der Inhalt löst sich auf zugunsten der Form. Zu Sieverdings eigentümlichem Desinteresse am Detail gesellt sich eine unverhohlen zur Schau gestellte Begeisterung für die Abstraktion. In wenigen dicken Strichen aufgetragen, thront dann keck leuchtend die Sumpfblume, der Vogel, das Gefäß auf den Bildern, geradezu so, als sei die Klarheit der Form nur zu gewinnen um den Preis des Verlusts der Details.

In seiner epochalen Studie „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ preist der US-amerikanische Sozialphilosoph John Rawls etwas, was er „Schleier des Unwissens“ nennt. Nur Menschen, die ihre je individuellen Besonderheiten, Wünsche und Bedürfnisse hinter diesem Schleier verbergen, werden nach Rawls in der Lage sein, Gerechtigkeitsgrundsätze aufzustellen, die für alle Geltung beanspruchen können. Zum Universalen gelangt demnach nur der, der das bloß Subjektive zu verdrängen vermag. Spontan streubt sich vieles in einem gegen diese Einsicht. Und womöglich würde sie Hans Sieverding nicht teilen. Aber wenn das Universale so klug wie Rawls Gerechtigkeitsgrundsätze und so schön wie Sieverdings Sumpfblume daher kommt, läßt sich damit gut leben.

Franco Zotta

Die Ausstellung ist bis zum 30. Juni zu sehen. Öffnungszeiten: Mi+Fr 12-18 Uhr, Sa 11-17 Uhr; Tel.: 35 57 07