„Man muß sich ganz vorsichtig rantasten“

■ Carola Meinhardt betreut als Referentin der Hamburgischen Senatskanzlei die jüdischen ehemaligen Bürger

taz: Im Herbst 1965 begannen die Bemühungen um die Kontakte zu jüdischen ehemaligen Hamburger. Was war der Anlaß?

Carola Meinhardt: Zum 24. Jahrestag der ersten Judendeportation aus Hamburg erschien damals ein Gedenkbuch für die Opfer. Da lag der Gedanke nicht fern, sich auch um Verbindung mit den Überlebenden aus dieser Stadt zu kümmern – weltweit. Und das hat man mit einer internationalen Anzeigenkampagne in deutschsprachigen Emigrantenzeitung gemacht.

Mit welchem Ergebnis?

Die Reaktion war überwältigend – im Juni 1966 hatten bereits 254 Personen geschrieben. In den Briefen wurde oft der Wunsch geäußert, Hamburg zu besuchen, aber man sei finanziell dazu nicht in der Lage.

Woraus sich das heutige Besuchsprogramm entwickelte.

Dieser Aufgabenbereich heißt: Pflege der Beziehungen zu jüdischen ehemaligen Bürgern Hamburgs. Und das umfaßt neben brieflichem Kontakt auch Unterstützung in Amtsdingen – bei Wiedergutmachung, Rentenangelegenheiten, Wiederbeschaffung von Dokumenten, im Staatsarchiv.

Hauptaufgabe sind aber die Einladungen?

Ja. Zwischen 1966 und 1971 sind vielleicht 40 bis 60 Gäste hiergewesen. Doch die Nachfrage wuchs, und so entstand eine lange Warteliste. Ab 1972 wurde dann gruppenweise eingeladen, und Anfang der 90er Jahre sind die Mittel drastisch erhöht worden, denn man konnte die Liste sonst im Leben nicht bewältigen – zu Lebzeiten der Ehemaligen!

Wem finanziert Hamburg Reisemöglichkeit und Aufenthalt?

Ursprünglich hatte man gesagt: Eingeladen werden die jüdischen gebürtigen Hamburger, die die Stadt seit ihrer Flucht noch nicht wieder besuchen konnten. In Hamburg geboren, das war unser Kriterium. Doch das machte keinen Sinn – denn man lebt ja nicht unbedingt in seiner Geburtsstadt, wächst oft woanders auf. Heute zählt: wer bis zur Emigration die längste Zeit seines Lebens in Hamburg verbracht hat, gehört zum Personenkreis der Ehemaligen und wird von uns betreut.

Ehemalige – klingt das nicht etwas harmlos?

Es sind Menschen, die hier auf brutalste Weise vertrieben wurden, aus ihrem ganz persönlichen und auch dem öffentlichen Bereich verdrängt – man hat ihnen alles genommen, materiell und ideell, hat sie bis in die tiefste Seele verletzt. Und es konnte sich hier wohl niemand vorstellen, daß trotz alledem der Wunsch besteht, wieder zurückzukommen und Hamburg noch einmal zu sehen. Was es dann für sie bedeutet, tatsächlich hier zu sein, ist kaum nachzuvollziehen. Man muß sich in der Begegnung ganz vorsichtig rantasten.

Die Einladungen dienen aber auch der Begegnung von Vertriebenen untereinander.

Anfangs waren die Gruppen nach Ländern eingeteilt, aber ich habe das geändert. Selbst Familien leben über die Welt verstreut. 1995 war Frau Strassmann aus London hier und traf ihren Bruder, Max-Erwin Jotkowitz aus Atlanta. Und dann habe ich noch dazu den Neffen aus Australien eingeladen. Diese Verwandten hatten sich fast 60 Jahre lang – seit der Emigration – nie treffen können. So ist es auch mit Freunden. Wiederfinden kann man sich nur, wenn gemixt eingeladen wird. Da meist gleiche Geburtsjahrgänge kommen, erleben wir es fast in jeder Gruppe, daß sich Freunde wiedererkennen. Sie glaubten voneinander, daß sie umgekommen sind.

Sind Einladungen und Betreuung ein Teil „Wiedergutmachung“?

Dieses Programm hat mit Wiedergutmachung nichts zu tun. Es geht um das Akzeptieren dessen, was passiert ist, das Aufbauen neuer Kontakte, vielleicht sogar von neuem Vertrauen; wieder ins Gespräch kommen miteinander und neue Verbindungen schaffen. Ich möchte den Gästen eine positive Erinnerung an diese Stadt mit nach Hause geben, das ist mein vorrangiges Ziel.

Welche Mittel stehen für diese Aufgabe bereit?

1969 waren es 8.000 Mark, hauptsächlich für Portokosten. In den neunziger Jahren haben wir pro Jahr zwischen 900.000 und einer Million Mark ausgegeben.

Wann werden alle jüdischen Ehemaligen hiergewesen sein?

Die uns heute bekannten ehemaligen Bürger – denn es gibt keine amtliche Stelle, die definitiv weiß, wer Hamburg verlassen hat, wann und wohin. Wir werden die Warteliste – und die Leute warten wirklich auf die Einladung, seit Jahren – wohl bis Ende 1997 bewältigt haben. Es sind bislang 1.773 ehemalige Hamburger hiergewesen. Da bleiben etwa 350, die noch nicht kommen konnten, vorwiegend aus den Jahrgängen 1928 bis 1939.

Fragen: Kay Dohnke