„Leben und leben lassen“

■ Warum Nummer 974 lieber das Obdachlosenmagazin Hinz & Kunzt verkauft, als zu betteln Von Lisa Schönemann

Er hat die Nummer 974*. Michael Ziessmer* steht sich jeden Tag außer samstags sieben Stunden lang die Beine in den Bauch. „Ich würde niemals betteln“, lautet das Credo des hageren Mannes mit dem Stammplatz in der Fußgängerzone. „Ich hab' schon viele Sachen ausprobiert – aber einfach so die Hand aufhalten? Nee, sowas mach' ich nicht.“ Stattdessen verkauft der 29jährige das Obdachlosenmagazin Hinz & Kunzt. Das orangefarbene Kärtchen mit der Nummer und seinem Photo weist ihn als Straßenverkäufer aus. Es ist Mittagszeit und kalt. Mitunter wärmt er sich bei der Blumenfrau auf. 15 bis 20 Zeitungen wird er am Tag los. Wenn er Glück hat. Die Zeiten, in denen sich die Hefte quasi von selbst verkauften, sind vorbei.

„Die Leute geben nicht mehr so gern“, hat Michael Ziessmer erfahren müssen. Da fährt einer mit 'nem Benz vor und läßt sich die 20 Pfennig herausgeben, wenn er die Zeitung gekauft hat.“ (Hinz & Kunzt kostet 1,80 Mark.) Ein anderer Mann, der wohl direkt „vonne Maloche“ gekommen sei, habe ihn angepöbelt. „Von wegen teure Jacke und denn auf arm machen; so hat der geschimpft.“ Die Jacke war tatsächlich noch ganz gut in Schuß, Michael Ziessmer hatte sie tags zuvor geschenkt bekommen. „Konnte der Malocher na klar nich' wissen.“ Andere Passanten empfehlen lautstark: „Geh' doch arbeiten.“ Hin und wieder brauche er da schon „ein dickes Fell“. Die Stammkunden sind dem Verkäufer mit der Pudelmütze am liebsten. Sie verlangen weder Unterwürfigkeit noch Demut und lassen ihn ansonsten in Ruhe. Viele von ihnen kennt Michael Ziessmer inzwischen mit Namen. Man grüßt sich im Vorübergehen. Einige kennen sogar seine Geschichte.

An das Schwarzwaldnest, in dem er geboren wurde, erinnert er sich nur ungern. Die Lehre als Bäcker war eine Verlegenheitslösung. Ob es so wichtig sei, was er danach gemacht habe, knurrt er und zündet sich eine Zigarette an. Wer erzählt schon gern, daß er im Gefängnis gesessen hat. Ein überfüllter Bus hält vorne an der Haltestelle und Michael Ziessmer weicht der Menge aus, die jetzt an ihm vorbeiströmt. Möchte vielleicht jemand ein buntes Obdachlosenjournal kaufen? Eine ältere Frau im zu engen Wintermantel holt ihr Portemonnaie aus der abgeschabten Einkaufstasche hervor und kauft eine Zeitung. Soweit der Ansturm.

Während der Haftzeit hat Michael Ziessmer seine Wohnung verloren. Als er nach anderthalb Jahren wieder frei kam, war es schwer, Fuß zu fassen. Obwohl er in der schwäbischen Strafvollzugsanstalt als Bäcker gearbeitet hatte, fand er draußen keinen Job. Sein Gepäck bestand nur aus einem Berg Schulden. Selbst wenn er die Bewährungszeit übersteht, wird es schwer werden, auf einen grünen Zweig zu kommen. Die Zeitung sei wie „ein Anker“ für ihn – um nicht ziellos dahinzutreiben und immer weiter abzurutschen.

Seit drei Jahren wohnt Michael Ziessmer jetzt in einer Pension in Langenhorn. Die knapp 900 Mark für seine Zimmerhälfte zahlt das Sozialamt. Mit seinem Zimmergenossen habe er sogar Glück: „Der klaut nicht.“ 35 Menschen teilen sich in der zur Männer-Wohnunterkunft umfunktionierten ehemaligen Absteige eine Dusche und vier Toiletten. Kaum daß im Winter die Heizung richtig funktioniert. Der 29jährige träumt mit sinkender Hoffnung von einer eigenen Wohnung. „Andere Wohnungslose warten fünf, acht Jahre, bis sich etwas tut.“ Er wolle „endlich mal wieder die Tür zumachen können“. Oder Freunde einladen. Wenn er welche hätte, fügt Michael Ziessmer hinzu.

Eine Frau nähert sich und stellt dezent eine Tüte mit Kaffee und Kuchen ab. „Für Sie“, murmelt die Mittvierzigerin und verweist auf den kleinen Schokoladenweihnachtsmann, den sie auf seine Tasche mit den Zeitungen gestellt hat. Weg ist sie. Mitunter ärgert sich Michael Ziessmer über den „Kollegen“, der auch jeden Tag kommt und sich wenige Schritte entfernt vor dem Drogeriemarkt niederläßt. Er verdirbt das Geschäft. Dann zuckt der Straßenverkäufer mit den Achseln: „Ich kann ihn doch nicht verscheuchen.“

Was ihn wirklich ärgere, seien „die Asylanten“. Wieviel die „abzockten“, das könne sich niemand vorstellen, gleich „zwei- oder dreimal, glaubt Michael Ziessmer. Er bekommt wie alle Alleinstehenden gut 500 Mark monatlich vom Sozialamt. Ab 1. Januar 1996 sollen die bescheidenen Einkünfte aus dem Zeitungsverkauf angerechnet werden. Jedenfalls sollen die Verkäufer zur Kasse gebeten werden, die keine Schulden haben. Bisher gibt er von seinem Verdienst regelmäßig zwei Rentnern etwas ab, die am Hauptbahnhof um ein Almosen bitten, weil ihre Rente nicht ausreicht. „Leben und leben lassen“, nennt der 29jährige diesen Obulus.

(* Nummer und Name geändert)