Das Ungetüm hinter der Ofentür

Oma hatte es gut gemeint. „Heiligabend verbringen wir dieses Jahr bei mir.“ Allgemeine Zustimmung, „aber wir bringen das Essen mit“, wollten meine Erziehungsberechtigten die großmütterliche Witwenrente schonen, die selbst für die Verhältnisse Ende der 70er nicht gerade üppig war. Da traf es sich günstig, daß ein Geschäftspartner meines Vaters letzterem einen ganzen Puter als Firmenpräsent überreicht hatte: „Viel Spaß damit.“ Den sollten wir haben.

Das Riesenvieh, mindestens 20 Pfund schwer, wurde schon am Mittag des 24. Dezember zu meiner Oma transportiert – zwecks Vor- und Zubereitung. Hilfe wollte meine Oma nicht annehmen, sie wäre eine erfahrene Hausfrau und wisse schon alleine, was zu tun sei. „Kommt so gegen 19 Uhr, dann ist das Essen fertig.“ Wir – die Eltern, mein Bruder und ich – standen pünktlich auf der Matte, selbstverständlich hungrig.

„Setzt Euch schon“, bat Oma zu Tisch, die ihren Schwiegersohn zum Assistieren (jetzt also doch!) in die Küche gerufen hatte. Mit vereinten Kräften schälten die beiden den Vogel aus dem Ofen. Wenige Augenblicke später befand sich das dampfende Teil auf dem Tisch. „Ich schneide auf“, bot mein Vater an, um sogleich den ersten Tranchierversuch wieder zu beenden: „Die ist nicht gar.“ „Kann nicht sein“, war Oma etwas pikiert, „nach vier Stunden im Ofen“. Also zurück, det janze.

Auch der zweite Versuch mißlang, der dritte nach der Tagesschau ebenfalls. „Dieses Ungetüm“, verlor Oma langsam die Contenance und drückte die Ofentür zu. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Erst nach 23 Uhr und weiteren Anläufen war der Truthahn endlich so, wie er schon am frühen Abend hätte sein sollen: kross und durch. Ermattet tafelten die Erwachsenen – ohne die Kinder. Wir wollten lieber weiterschlafen. Rutger Sand