Quo vadis Selbsthilfe

■ Nutzt Bremen neue Finanzierungspläne der Bundesregierung für die Selbsthilfe jetzt zu Sparzwecken aus? Ein Interview

Die neue Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne) will die Krankenkassen künftig in die Finanzierung von Selbsthilfegruppen einbeziehen. So sieht es ihre geplante „Gesundheitsreform 2000“ vor. Rund 1.000 Selbsthilfeexperten trafen sich vergangene Woche zu einer bundesweiten Tagung in Bremen – um über das geplante Gesetzesvorhaben zu diskutieren. Gleichzeitig diskutiert die große Koalition bei ihren Koalitionsverhandlungen über derbe Kürzungen im Selbsthilfebereich. Wir sprachen darüber mit Jobst Pagel vom Bremer „Netzwerk Selbsthilfe“, das 1.000 Bremer Gruppen betreut.

taz: Endlich ist dank der neuen Bundesregierung mehr Geld für Selbsthilfegruppen in Sicht. Doch da springt plötzlich die Bremer Koalition dazwischen und denkt über zehnprozentige Kürzungen bei den rund 1,8 Millionen hohen Zuschüssen für insgesamt 1.000 Selbsthilfegruppen nach.

Jobst Pagel: Das ist bitter. Der Gesetzentwurf sieht nämlich bislang vor, daß die Krankenkassen bis zu einer Mark pro Versicherten zahlen sollen. Das heißt, sie könnten bislang auch nur einen einzigen Pfennig geben. Wenn die Kassen jetzt merken, daß sie kompensatorisch für das Land zahlen, werden sie natürlich gleich wieder auf Null gehen. Denn der Gesetzgeber hat ausdrücklich vorgesehen, daß die Leistungen von Zuschüssen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zu Kürzungen im öffentlichen Haushalt führen dürfen.

Und die Krankenkassen sind ja offenbar auch noch gar nicht so überzeugt, für diesen Bereich Geld auszugeben?

Auch sie sind natürlich angehalten zu sparen. Das Geld für die Selbsthilfe soll ja laut Gesetzentwurf ausdrücklich in der Höhe eine freiwillige Leistung bleiben – und steht somit natürlich in Gefahr, ein Objekt des Sparens zu werden.

Sie fordern deshalb von der Bundesregierung, die Summe von einer Mark verbindlich festzuschreiben. Nagt die Selbsthilfe denn so stark am Hungertuch?

Die Selbsthilfe-Unterstützerstelle zum Beispiel lebt sehr stark von der Hand in den Mund. Unsere Beratungsstelle klagt ständig über steigende Nachfrage bei den BürgerInnen. Das wird jedes Jahr immer mehr. Wir haben eine Steigerung der Beratungsnachfrage von jeweils 20 Prozent pro Jahr.

Woran liegt das?

Das liegt daran, daß Selbsthilfe immer bekannter wird. Vor 20 Jahren waren solche Gruppen eher noch etwas für Eingeweihte. Aber jetzt dringt dieses Angebot als ein weiteres Hilfsangebot bei Krankheiten immer mehr in andere Bevölkerungsgruppen durch. Es gründen sich ständig neue Gruppen, weil es immer neue Krankheiten gibt. Sie werden zum Teil auch wirklich erst durch Selbsthilfegruppen in den Medizinsektor hereingetragen – zum Beispiel das chronische Müdigkeitssyndrom.

Und wie arbeiten Sie mit Ärzten zusammen?

Wir haben für die Ärzte in Bremen einen Selbsthilfewegweiser erstellt und wollen in Zukunft die Qualitäten und Kompetenzen aus dem Bereich der Selbsthilfe jetzt noch verstärkter in Form von Weiterbildungen, von Trialogen und Gesprächen an die Ärzte heranbringen – damit die Erfahrungen der dort organisierten PatientInnen auch den Medizinern zugutekommen.

Also sind die Patienten zum Teil fitter als die Ärzte?

Nicht unbedingt. Die medizinische Bewertung bleibt natürlich der Ärzteschaft vorbehalten. Aber eine Krankheit ist ja nicht nur allein ein medizinisches Phänomen. Diabetiker zum Beispiel können Ärzten sicher einiges mitteilen darüber, wie eine Lebensgestaltung aussehen könnte. Sehr wichtig ist aber auch, daß von Ärzten der Umgang mit Patienten gelernt werden kann. Seit einigen Jahren ist es ja glücklicherweise so, daß das Hierarchiegefälle zwischen Ärzten und Patienten immer mehr abnimmt. Dabei können Selbsthilfegruppen weiterhin helfen.

Und wie wollen Sie die Kassen überzeugen, daß Zahlen Sinn macht?

Wir sind seit zehn Jahren mit den Krankenkassen im Gespräch über dieses Thema. Sie sind laut Gesetz verpflichtet, sich für die Gesundheit ihrer Mitglieder einzusetzen, daß sie gesund bleiben und wieder gesund werden. Das ist für sie ja letztlich auch eine ökonomische Frage. Denn Patienten, die in Selbsthilfegruppen aktiv sind, sind informierte Patienten, die sich im Gesundheitssystem kompetent auskennen. Sie suchen nicht erst viele Ärzte auf und verursachen dadurch hohe Kosten. Die Patienten tauschen sich ja innerhalb der Gruppen immer aus.

Wie soll der Geldtransfer zwischen Selbsthilfe und den Krankenkassen dann konkret ablaufen?

Sicher nicht so, daß jeder Patient für eine Selbsthilfegruppe einen isolierten Antrag stellen wird. Das wäre ein viel zu hoher Bürokratieaufwand. Da sind Pauschallösungen sicherlich viel besser. Es ist jetzt einfach wichtig, daß wir mit den Kassen in einen konstruktiven Dialog kommen – und da dann entsprechende Modelle diskutieren.

Und wenn die große Koalition das Ganze nun mit ihren Kürzungsplänen wieder ad absurdum führt?

Wenn die Koalition jetzt im Hinblick auf das neue Gesetz aus Bonn im Selbsthilfebereich den Sparhebel ansetzt, wird es uns ganz kalt erwischen. Wir pfeifen sowieso schon seit Jahren aus dem letzten Loch. Gruppen und Beratungen wären in der bisherigen Form nicht mehr möglich.

Fragen: Katja Ubben