Opa im Heizungskeller versteckt

■ Alte Menschen werden eigensinnig und die Angehörigen „zeitlos einsam“, wenn sie alles alleine schultern: Eine Reportage über die Folgen der Alterskrankheit „Alzheimer“

„Die Muddi kricht doch nix mehr gebacken“, erzählt Ulla D. Und Hilde D., die Schwägerin lacht bitter: „Aber wenn se die fragen, die hat ja Land, hat ne Kuh und den Haushalt macht se ja alles selber.“ „Muddi“ mit 89 Jahren sitzt mit am Tisch in ihrer guten Stube in Kirchweyhe. Braun-marmorierte Wollfäden dienen als Tapete, dickgestickte Synthetik in Karamel ziert den Tisch und ein Holzsarg von Radioempfänger thront auf der 50er Jahre Kommode.

Es mieft. Trotz der weitgeöffneten Fenster und Türen, trotz Lüften, 24 Stunden am Tag, Sommer wie Winter. Die kleine, weißhaarige Frau sitzt kerzengerade auf ihrem Stuhl. Ihre Hand ruht sittsam im Schoß, die andere, nah an der Wange, spielt nervös. Immer wieder streicht sie angebliche Falten von der Tischdecke. Zwischendurch springt sie auf: „Aufs Feld muß ich“, sagt sie. Aber es gibt kein Feld. Antonia D. leidet seit zehn Jahren an Altersschwachsinn. Die Schwiegertöchter nehmen da kein Blatt vor den Mund. „Demenz“ steht nur vornehm auf der Arztrechnung.

Eine Million Menschen in Deutschland – so viel wie in Bremen und Hannover zusammengenommen wohnen, leiden an derselben Krankheit. Inzwischen kennt man Altersschwachsinn auch auf dem Land als „Alzheimer“. In jedem zweiten Fall pflegen Angehörige die Kranken. Fast immer trifft es die Frauen in der Familie. Jahrelang ertragen sie Hilflosigkeit und Wut, Trauer und böse Worte. Weil „Muddi“ kaum alleine sein kann, haben die Schwiegertöchter den Beruf aufgegeben. „Wo ist Opa?“ fragt die Schwiegermutter unvermittelt. „Das fragt die ständig“, sagt Ulla auf dem Sofa genervt. Und Hilde, die neben Oma sitzt, schreit ihr ins Ohr: „Ja, wo is der denn, der Opa?“ „Das wüßte ich auch mal gern“, sagt Oma plötzlich verschmitzt und spielt mit den Bändern an ihrem blaßblauen Pulli. „Ihr sacht mir ja nix.“ „ So geht das ständig,“ sagt Ulla, und Hilde brüllt: „Im Krankenhaus ist der Opa, weißte doch.“ „Was?“ fragt Oma. „Im Krankenhaus is der.“ „Ach ja“, sagt Oma – Pause – „ich muß jetzt für Opa Abendbrot richten“. „Jetzt is doch nich mal Mittag, Oma“, brüllt jetzt Ulla, „heut gibts Gulasch“. „Ich krieg nie zu essen hier“, sagt Oma entschlossen. „Ich koch doch jeden Tach für Dich“, schreit Hilde zurück. Durch dickes Brillenglas schauen Omas große trübe Augen auf Ulla. „Hilde kauft doch immer ein und kocht für Dich“, sagt auch Ulla laut. „Was schnackt ihr doa fürn Kauderwelsch, dat kann ich nich mehr verstaan,“ sagt Oma. „Wo is denn Opa heute?“

Zuletzt hatte Opa sich im Heizungskeller vor seiner Frau versteckt, berichten die Schwiegertöchter. Vor einem halben Jahr mußte er ins Pflegeheim, wegen Parkinson und Alzheimer. Schüttellähmung und Rückfall ins Kindliche, mit Windeln, Füttern, Streicheln. Vorher kamen aggressive Schübe. Er ging mit Eisenstangen auf die Familie los. Die Schwiegertöchter wollen jetzt die Vormundschaft. Dann können sie erlauben, daß Opa im Heim festgebunden wird. „Zum eigenen Schutz“, sagen sie, „er fällt doch ständig“.

Oma fragt pausenlos nach ihm. Aber besucht hat sie Opa erst einmal. Opa fragt nie. Für Hilde und Ulla kein Wunder. Oma sei verklemmt und kalt. „Ich werd traurig, wenn ich so nachdenken tu, wie ich durchs Leben gekommen bin,“ erzählt Oma. Auf einmal wirkt sie konzentriert. „Die Mutter mit 38 gestorben, dann mit zwölf zum Bauern und die ganze Arbeit. Dann hab ich Opa kennengelernt, beim Tanzen war das.“ Oma gestikuliert lebhaft. Dann durchfährt ein Zucken die alte Frau, sie zieht die Hand ängstlich ans Gesicht: „Ob ich je noch was zu Essen kriege“, murmelt sie und blickt ins Leere. „Keinen Abend will sie ohne Opa schlafen gehen“, klagen die Angehörigen. Da hilft auch keine Medizin.

Antonia D. ist immer hibbelig – und oft ganz traurig. „Aber die Ärzte können nichts dagegen tun“, sagen die Schwiegertöchter, als Oma plötzlich aufspringt: „Ich muß mal was zu Essen machen“, sagt sie, die seit Jahren nicht mehr kocht. „Dein Gulasch“, brüllt Ulla. „Man brüllt ja nur noch“, sagt Hilde. „Wir haben ja schon seit Jahren kein anderes Thema mehr.“ Ulla schweigt. Sie ist mit den Nerven fertig.

Rückblick: Früher war Ulla Friseurin und Hilde war Postbeamtin. Mit Anfang 50 haben beide ihren Beruf aufgegeben. Für Oma. Nachgucken, Einkaufen, Nachgucken, Essenmachen, Nachgucken, Reden. Die beiden Frauen wechseln sich ab – die Familien wohnen Tür an Tür. Die Ehemänner und Söhne haben sich ausgeklinkt. „Die gucken in die Ecke“, sagt Hilde. Natürlich leide die Ehe. „Die Männer verlassen sich ganz auf uns“ sagt Ulla, ein bißchen stolz. Und Freunde? Freunde könnten das nicht nachempfinden und würden jetzt wegbleiben. Besuch für Oma? „Die meisten sind ja gestorben.“ Und die, die noch leben, wollten sich nicht belasten: „Die sitzen in der Stube und heulen, wenn sie dauernd nach Bekannten fragt, und die sind schon drei Jahre auf dem Friedhof.“

Demnächst soll alles anders werden. „Wenn nichts mehr geht, muß Muddi eben ins Pflegeheim.“ Ulla und Hilde haben sich endlich durchgerungen. Antonia D. wischt derweil weiter Falten vom Tisch und schaut unbeteiligt, leise Gespräche kann sie nicht verstehen. Demnächst wird ein Zivi sie morgens früh um acht Uhr abholen, zum gemeinsamen Essen und Singen. Er wird von der neuen Einrichtung kommen, die Angehörigen von AlzheimerpatientInnen hilft (siehe Kasten. „Oma is doch gerne in Gesellschaft“, sagt Ulla. „Zwei Tage die Woche kommt sie da hin.“ Aber Oma weiß davon noch nichts. Noch mehr verwirrte Fragerei könnten die Schwiegertöchter nicht aushalten. Und trotzdem ist für sie unvorstellbar, wie die Tage ohne Oma werden. „Wir wüßten ja gar nicht, was los wär“, witzeln die beiden erschöpft – und ein bißchen froh. Plötzlich singt Oma dazwischen: „Alle Tage is nicht Sonntag, alle Tage gibts kein Wein.“

Liane Aiwanger