■ Nebensachen aus Istanbul
: West-östlicher Diwan

Machmal ist es lehrreich, seine eigene Arbeit im Rückblick noch einmal zu betrachten. Seit Mitte letzter Woche ist Pause im Öcalan-Prozeß und auch die Regierungsbildung ist abgeschlossen. Zeit für Archivarbeit, in den letzten Wochen sind ja ganz Berge liegengeblieben. Man kommt ins Grübeln.

Lebe ich tatsächlich in diesem Land? Krieg im Südosten, Terror im Westen, Menschenrechtler in den Knast, Pogromstimmung gegen Kurden, Direktiven des Generalstabs. Da tut sich doch ein Abgrund zwischen Arbeit und Leben auf. Wieso lebe ich eigentlich gern hier, fühle mich nicht verfolgt und in meiner Arbeit nicht behindert?

Privilegien eines Auslandskorrespondenten, dem in einer repressiven Gesellschaft halt weit weniger Gefahr droht als einem Einheimischen? Vielleicht, aber das ist es nicht. Der Grund ist viel banaler. Jenseits der Schreckensmeldungen hat die Türkei, vor allem aber die Metropole Istanbul, ihren eigenen Rhythmus und eine sprühende Lebensfreude.

In Istanbul ist „summertime“. Das Leben hat sich auf die Straße verlagert, die Konzertsaison in den Freilichtbühnen hat begonnen. Jetzt zeigt sich, was es heißt, Metropole an der Schnittstelle zwischen Okzident und Orient zu sein. Der Gebetsruf über der Stadt ist noch kaum verklungen, als im europäischen Teil ein Auftritt Jaques Derridas beginnt. Der Saal ist gerammelt voll. Der große Philosoph der Postmoderne hat sich ein beziehungsreiches Thema gesucht: Ist Verzeihung für das Unverzeihliche möglich? Was zunächst sehr abstrakt daherkommt, entwickelt doch eine ungeheure Aktualität.

Wird es im Kosovo noch einmal ein Zusammenleben zwischen Albanern und Serben geben? Und, unausgesprochen, aber geradezu mit den Händen zu greifen: Ist Versöhnung zwischen Kurden und Türken, zwischen PKK und den Angehörigen der gefallenen Soldaten möglich? Verzeihung des Unverzeihlichen? Die Voraussetzung sei ein Schuldbekenntnis und die Bitte um Vergebung, sagt Derrida.

Am Abend beginnt dann der wirklich entspannte Teil auf dem West-östlichen Diwan. In der Freilichtbühne über dem Bosporus liefern die „Brooklin Funk Essentials“ zusammen mit der türkischen Sinti-Gruppe „Laco Tayfa“ eine perfekte Symbiose west-östlicher Musik. Hunderte Menschen tanzen auf engstem Raum. Kein Gedanke an Terror, Krieg und Nationalismus. In Istanbul weiß auch das Kapital, daß die Zukunft genau in dieser Symbiose liegt. Der Auftritt der beiden Bands wird von einer der größten Geschäftsbanken gesponsert. Istanbul lebt – und weder das Militär noch die PKK können diese Stadt kaputtmachen. Jürgen Gottschlich