Das russische Tohuwabohu hat System

Offensichtlich gab Präsident Boris Jelzin selbst den Befehl, ein Vorauskommando in das Kosovo zu schicken. Mit Erfolg. Rußland soll jedenfalls eine eigene „Besatzungszone“ erhalten  ■   Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Für Überraschungen und unkonventionelle Lösungen ist Moskau immer gerne zu haben. Das russische Außenministerium zumindest sieht in dem Einmarsch russischer SFOR-Einheiten in das Kosovo noch vor den Streitkräften der Allianz kein besonderes Problem. Außenminister Igor Iwanow war gestern darum bemüht, Moskaus Überraschungscoup lediglich als eine zeitlich nicht ganz glückliche Aktion hinzustellen.

Bisher hat noch keiner in Moskau offiziell die Verantwortung für den Marschbefehl übernommen. Sonnabend früh hatte Iwanow den Einmarsch indes als einen „schweren Fehler“ bezeichnet, mußte sich tagsüber jedoch korrigieren. Alle Anzeichen weisen darauf hin, daß Präsident Boris Jelzin eigenhändig den Befehl zum Einrücken der russischen Truppen in Pritina erteilt hat. Auf jeden Fall war er bestens darüber informiert. Vermutungen, das Militär habe auf eigene Faust gehandelt, sind damit hinfällig.

Das Chaos und heillose Durcheinander, das das russische Husarenstück begleitet, hat nichts mit dem üblichen Wirrwar der Verhältnisse in Moskau zu tun. In diesem Fall hat das Tohuwabohu System. Die Allianz soll im ungewissen darüber gelassen werde, wer hinter der Aktion steckt und welche Brisanz das russische Vorgehen enthält.

So zweifelte US-Vizeaußenminister Strobe Talbott bei den gestrigen Verhandlungen mit Iwanow in Moskau noch: Wohl kaum habe Präsident Jelzin die Order erteilt. Die Vertreter der Allianz machen gute Miene zum bösen Spiel. Die Gewinner sind eindeutig die Russen. Offenbar haben sich die USA und Rußland gestern auf einen Kompromiß geeinigt. Laut amerikanischen Quellen wird Moskau nun den geforderten eigenen Sektor im Kosovo erhalten. Washington hatte das russische Anliegen im Vorfeld kategorisch zurückgewiesen. Im Gegenzug sollen die Russen nun bereit sein, ihre Einheiten einer gemeinsamen Kommandostruktur zu unterstellen. Darauf wollen sich der britische Außenminister Cook und Iwanow telefonisch verständigt haben. Demnach wird das russische Kontingent in die KFOR integriert. Jelzin soll dem Ergebnis zugestimmt haben, hieß es gestern in Moskau.

Die Erfahrung der letzten Tage hat jedoch gezeigt, daß den Äußerungen des russischen Außenministers mit Vorsicht zu begegnen ist. Nicht etwa, weil er bewußt falsch spielte. „In gewissem Maße war es ein Überraschung“, gestand Iwanow nach Gesprächen mit Talbott. Spielte die Angelegenheit dann aber sofort herunter: Andererseits gebe es keinen Anlaß, erstaunt zu sein, „da der Außenminister taktischen Fragen und Truppenbewegungen nicht unbedingt von Minute zu Minute folgen“ müsse.

Der russische Privatsender NTW verbreitet eine Version, wonach der Generalstabschef der russischen Armee, General Anatoli Kwaschin, den Befehl zum Vorrücken gab. Demnach wurde nicht einmal Verteidigungsminister Igor Sergejew von dem Alleingang informiert. Am Kopf des russischen Konvois zog General Wiktor Sawarsin ins Kosovo ein. Kurz darauf wurde der General von Präsident Jelzin befördert. Daraus leiten Beobachter ab, Jelzin sei genauestens im Bilde gewesen. Doch damit nicht genug: Als besonders delikat empfinden die westlichen Militärs, daß ausgerechnet Sawarsin bis zum Einfrieren der Beziehungen als russischer Vertreter bei der Nato tätig war. Offen bleibt, ob die Einbindung der Russen in die KFOR dem Ziel der Allianz dient, eine Teilung des Kosovo zu verhindern. Das russische Militär sympathisiert offen mit Miloevic. Die Serben waren offenkundig genauestens in die russischen Pläne eingeweiht. General Leonid Iwaschow, Chef der Auslandsabteilung des Verteidigungsministeriums und Leiter der Verhandlungen auf russischer Seite, sagte, Moskau habe den USA detaillierte Vorschläge gemacht, auf welche Weise die russischen Truppen mit der KFOR zusammenarbeiten könnten. Am Dienstag erwarte man in Moskau eine Antwort. Das Verhalten der russischen Vorhut in Pritina sieht nicht danach aus, als wäre sie bereit, sich einer gemeinsamen Kommandostruktur unterzuordnen. Vor Ort stehen die Zeichen auf Konfrontation. Die Einheiten blockieren den Zugang zum strategisch wichtigsten Punkt, dem Flughafen der Stadt.

Die Taktik, vorzupreschen und vollendete Tatsachen zu schaffen, hat sich als äußerst effektiv erwiesen. Am Ende erhält Moskau das, was die Allianz zu verhindern suchte. Die langfristigen Nachteile könnten unterdessen überwiegen. Das Mitglied des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Wladimir Awertschew, meinte: „Die Bedenken in einigen westlichen Hauptstädten sind mehr oder weniger gerechtfertigt, weil nicht klar ist, wer in Moskau entscheidet.“ Glaubwürdigkeit – ohnehin eine recht schwach ausgeprägte Eigenschaft – hat der Kreml durch sein Verhalten nicht dazugewonnen. Die Befürchtungen, daß die westliche Gemeinschaft nun den Geldhahn zudrehen könnte, wachsen.