Alle haben verloren, niemand hat gewonnen

■ Geringe Wahlbeteiligung zu Lasten aller Parteien. SPD verlor zwei Drittel der Wähler

Wählerwanderung? Da winken die Demoskopen diesmal ab. „Es hat bei der Europawahl nur eine einzige Wanderung gegeben“, sagt Forsa-Meinungsforscher Manfred Güllner, „und zwar die Wanderung in die Enthaltung.“ Bei einer Wahlbeteiligung von knapp 40 Prozent seien die Prozentzahlen wenig aussagekräftig. Die Wahlforscher halten sich ohnehin lieber an die absoluten Stimmenzahlen, und die sprechen diesmal eine deutliche Sprache: Alle etablierten Parteien haben verloren.

Die Wählerschar der scheinbar siegreichen Christdemokraten dezimierte sich in Berlin gegenüber der Bundestagswahl um 27, 5 Prozent auf 335.971 Anhänger. „Nur noch 14 von 100 wahlberechtigten Berlinern haben die CDU gewählt“, sagt Güllner. Die Grünen, in Prozenten stabil, mußten auf 36,6 Prozent ihrer Stimmen vom Vorjahr verzichten. Die Stimmenzahl der PDS, die bei einer Wahlbeteiligung im Ostteil der Stadt von lediglich 35 Prozent Rekordanteile verbuchte, schrumpfte um 39,1 Prozent. Sie konnte also offenbar nicht nennenswert von grünen Kriegsgegnern profitieren.

Am schlechtesten steht aber auch in dieser Rechnung die SPD da: Sie verlor seit vergangenem Herbst zwei Drittel ihrer Wähler. Im Sog des Schröder-Effekts holte sie 740.915 Stimmen, jetzt waren es nur 256.099. Neun von zehn Wahlberechtigten haben sich also entschieden, diesmal keine Stimme für die SPD abzugeben. „Die Berliner SPD muß die Realität zur Kenntnis nehmen: Sie wird für wenig wählbar gehalten“, glaubt Meinungsforscher Güllner. „Zwischen Juni und Oktober“ sei daran wenig zu ändern, ein durchgreifender Stimmungsumschwung zugunsten der Sozialdemokraten erfordere „die systematische Arbeit von mehreren Jahren“. Die Bundestagswahl habe bewiesen, daß es in Berlin durchaus ein großes Wählerpotential für die SPD gebe.

Die Wahlunlust der BerlinerInnen schwankte von Bezirk zu Bezirk erheblich. Als treueste Urnengänger erwiesen sich die Zehlendorfer. 55,0 Prozent von ihnen suchten das Wahllokal auf. Am unteren Ende rangierten Marzahn, Hohenschönhausen und Hellersdorf. Nicht einmal jeder dritte Plattenbaubewohner ging wählen. Daher genügte in Hohenschönhausen ein Sechstel der Wahlberechtigten, um der PDS zu einem Stimmenanteil von 48,1 Prozent zu verhelfen. Ralph Bollmann