Erdrutsch auf dem Dritten Weg

■  Bei den Europawahlen können weder linke noch rechte Sozialdemokraten ihre Wähler mobilisieren. Konservative frohlocken und fordern mehr Einfluß in der EU Kommission

Berlin (taz) – Nicht viele Ergebnisse der Wahl vom Sonntag lassen sich mit solcher Eindeutigkeit europäisch nennen, wie das von Daniel Cohn-Bendit. Der deutsche Grüne brachte als Spitzenkandidat die französischen Grünen.von 2,9 auf 9,7 Prozent. Somit hatte Cohn-Bendit entscheidenden Anteil daran, daß zum einen die Grünen in Europa trotz der Schlappe ihrer deutschen Sektion insgesamt zulegten und zum anderen das französische Linksbündnis trotz der Einbußen der Sozialisten noch als Sieger auf dem nationalen Tableau stand.

Es gibt, konstatierte die Pariser Zeitung Le Figaro nicht nur für die franzöischen Ergebnisse, keine festen Wählergruppen mehr. Der Stammwähler, der bei Wind und Wetter dem Willen der Partei folgend an die Urne schreitet scheint eine aussterbende Spezies zu sein. Das merkten bei diesen Europawahlen vor allem die Sozialisten, Überall, wo die Konservativen gewannen, gelang ihnen das, weil die großen linken Parteien noch weniger in der Lage wahren, ihre Wähler zu mobilisieren.

Noch wenige Tage vor der Wahl hatten der deutsche und der britische Regierungschef ihrem Wahlkampf eine besondere Botschaft geben wollen. Den „Weg nach vorne“ wollten Gerhard Schröder und Tony Blair den europäischen Sozialdemokraten in einem „Positionspapier“ zeigen. Das Papier provozierte erwartungsgemäß vor allem in der deutschen Sozialdemokratie erst einmal Streit. Die Wähler der neuen Mitte jedoch, die Schröder wie Blair bei ihren jeweiligen Wahlen zum Regierungschef mit dieser Programmatik angesprochen hatten, quittierten diesmal beider Politik mit massiver Abwesenheit. Dafür werden nun, vor allem in der deutschen Sozialdemokratie, auch nationale Gründe geltend gemacht. Auch das desaströse Abschneiden von New Labour läßt sich nicht allein mit den europapolitischen Positionen erklären. Andererseits läßt sich aus dem Resultat der französischen Sozialisten nicht ablesen, daß es eine Präferenz für den künftigen Weg der europäischen Sozialdemokratie gibt. Nur daß sie, kaum neun Monate nachdem sie in Europa die Hegemonie erlangten, schwach darstehen, ist eindeutig.

Im neuen Europaparlament werden sie erstmals seit Einführung der Direktwahl vor 20 Jahren nicht mehr die stärkste Fraktion stellen. Mit Ausnahme des rot-grünen Regierungsbündnisses in Paris, das gestärkt aus der Wahl hervorgeht, und Zugewinnen in Spanien, Portugal und Österreich mußten Sozialisten und Sozialdemokraten in den meisten Unionsländern Federn lassen.

Noch in dieser Woche sollen in Brüssel die Verhandlungen über die Bildung der Fraktionen des neuen Europaparlaments beginnen. Für Spannung sorgt dabei vor allem das zersplitterte rechte Lager in Frankreich, das wegen Unstimmigkeiten über die Europapolitik mit fünf verschiedenen Listen angetreten war. Die Stärke der künftigen christdemokratischen Fraktion hängt auch davon ab, wie viele französische Abgeordnete sich in ihr zusammenschließen wollen. Schon bisher waren die französischen Parlamentarier aus dem bürgerlich-konservativem Lager in Straßburg in unterschiedlichen Fraktionen.

Erste Auswirkungen werden die neuen Kräfteverhältnisse im europäischen Parlament zeitigen, wenn die Posten der EU- Kommissare besetzt werden. Der designierte EU-Präsident Prodi, der die Kandidatenliste für seine neue Kommission dem neuen Parlament schon im Juli vorlegen will, wird die neuen Kräfteverhältnisse im Europaparlament nicht ignorieren können. Obwohl er selbst bei seiner Nominierung im Mai von einer parteiübergreifenen Mehrheit unterstützt wurde, muß seine Kommission den vergrößerten Einfluß der Europäischen Volkspartei widerspiegeln. Der scheidende EU-Wettbewerbskommissar Karel Van Miert sagte: „Prodi muß dafür sorgen, daß in der Kommission die großen politischen Familien vertreten sind.“ Auch Gil-Robles wertete das Wahlergebnis als Zeichen dafür, daß „die Bürger ein Gleichgewicht in Europa wollen“ anstelle der Dominanz einer politischen Kraft.

Die deutschen Konservativen haben bereits eine erste Konsequenz gezogen. Sie beanspruchen aufgrund ihres überragenden Wahlergebnisses einen der beiden Deutschland zugesprochenen Kommissariatsposten. Die Grünen, die ihre Kandidatin bereits nominiert haben, können ihren Anspruch immerhin mit dem europaweit guten Abschneiden ihrer politischen Gruppierung begründen. Dieter Rulff