Vom fehlenden Sinn für das Zivile

Das Hamburger Institut für Sozialforschung zog eine Zwischenbilanz der Wehrmachtsausstellung  ■   Von Jan Feddersen

Im März 1995 begann in der Hamburger Kampnagelfabrik, ein Refugium linksliberalen, staatskritischen Kulturschaffens, eine Ausstellung, die im Hamburger Institut für Sozialforschung vorbereitet wurde: „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Mit einer Fülle von Fotomaterialien und Texten wurde der Beweis erbracht, daß die Wehrmacht einen Vernichtungskrieg, nichts als einen Vernichtungskrieg gegen das Jüdische und das Slawische führte.

Die Legende, der einfache Soldat habe vom Grauen des deutschen Krieges gegen das Jüdisch-Bolschewistische nichts wissen können, wurde widerlegt. Daß die mit teilweise drastischen Fotografien arbeitende Ausstellung – die sich auf Vorarbeiten des Freiburger Militärgeschichtlichen Forschungsamt stützen konnte – zur erfolgreichsten politischen Schau der Nachkriegszeit avancierte, lag weniger an den Initiatoren Hannes Heer und dem Institutsleiter Jan Philipp Reemtsma. Zum Erfolg trug das Tabu der sauberen Wehrmacht selbst bei, besser: daß erst mit der Ausstellung Zeitzeugen gehört wurden, in vielen deutschen und österreichischen Familien über Großvaters Zeit an der Ostfront gesprochen wurde.

Und, kaum minder mobilisierend: Zwei Jahre nach der ersten Station in Hamburg hatten rechtsradikale und rechtskonservative Kreise gegen die Ausstellung mobilisiert. In München versammelte die NPD Kameradenkreise zur – erfolglosen – Verhinderung der Ausstellung. Je mehr gegen die Schau agiert wurde, desto stärker wurde sie wahrgenommen: Selbst der Bombenanschlag in Saarbrükken hatte lediglich zur Folge, daß nun weitere drei Dutzend Städte die Ausstellung zeigen wollen.

Die Debatte um die Verbrechen der Wehrmacht gehörte, zwei Generationen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zu den wichtigsten der Bundesrepublik nach 1968, auch wenn bestimmte Fotos im Hinblick ihrer genauen Zuordnung nach wie vor umstritten sind.

Wie dem auch sei: Mehr als 800.000 Menschen haben sich mit dem „Vernichtungskrieg“ auseinandergesetzt. Beobachtet werden konnten, neben dem völkischen Protest, auch viele alte Menschen, Soldaten, ihre Witwen, die für ihre Erlebnisse erstmals ein Forum fanden. Inzwischen distanzieren sich auch weite Teile der Union von Parteifreunden wie Peter Gauweiler, die in der Ausstellung eine Beschmutzung der deutschen Ehre erkannten. Die Hamburger CDU beispielsweise gelobte vor kurzem, die in Hamburg zum zweiten Mal gastierende Schau nicht zu torpedieren, sondern für sie zu werben.

Ein schöner und später Erfolg der linksliberalen Kräfte in der Bundesrepublik. Denn bestritten werden die Verbrechen der Wehrmacht, ihre tiefe Verstrickung in den nationalsozialistischen Terror nur noch in „Landser“-Heften und einschlägigen rechtsradikalen Periodika. Die aufbereiteten Dokumente, die Feldpostbriefe, die wissenschaftliche Aufbereitung der NS- und Wehrmachtsbefehlsstrukturen beweisen: Die Ermordung und Hinrichtung von Millionen von Juden und Osteuropäern geschah nicht in der Not einer spezifischen Kriegssituation, sondern kalkuliert, vorsätzlich – und mit einer sichtbaren Freude an den Exekutionen, an den Massenerschießungen, an den Demütigungen und Versklavungen, wie die Gesichter der Kameraden belegen. Tote Juden, tote Russen waren Trophäen, war ihnen wie Wild, das sie erlegen konnten. Was viele, viel zu viele von ihnen machten, war also nicht mehr zu leugnen.

Eine Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung am vergangenen Wochenende sollte nun eine Zwischenbilanz der vergangenen vier Jahre der Ausstellung ziehen. Es ging darum, unter der Überschrift „Der deutsche Krieg 1914 – 1945“ ein Resümee zu ziehen: Daß nämlich die Wehrmacht sich in keiner Hinsicht mehr als unschuldig herausreden kann. Aber mehr noch: Gefragt wurde, ob der deutsche Krieg, der beide Weltkriege umfaßt und die knapp fünfzehn Jahre zwischen ihnen, spezifische deutsche Charakteristika enthielt – ob er sich von Kriegen anderer Nationen wie Frankreich oder Großbritannien unterschied. Und, wenn ja, warum er sich hinsichtlich seiner Brutalität oder im Hinblick auf seine Mission einer „eschatologischen Säuberung“ (Hannes Heer) der europäischen Welt unterschied.

Der Soziologe Lutz von Trotha beispielsweise verwies auf die deutsche Kolonialistenregime in Afrika. Anders als die britischen oder französischen Kolonialherren suchten deutsche in Südwestafrika, dessen Bewohner auszurotten. Im Deutschen sei schon im vorigen Jahrhundert der Wille vorhanden gewesen, mehr zu wollen als nur die Ausplünderung der Rohstoffe oder die Domestizierung der Kolonisierten.

Der Berner Historiker Stig Förster mochte von einer direkten Kontinuität des Deutschen bis hin zum Vernichtungswahn des NS-Deutschlands nicht sprechen. Vernichtung, so Förster, bedeutete im Zusammenhang des Ersten Weltkriegs noch keinen Völkermord, auch wenn die deutschen Truppen in Nordfrankreich verwüstete Landschaften hinterließen und ihren Feldzug im Stile eines Volkskrieges bestritten.

Jan Philipp Reemtsma, der den Eröffnungsvortrag hielt, entwikkelte eine historische Linie der deutschen Weltanschauung am Beispiel von Heinrich von Kleists Theaterstück„Hermannsschlacht“, nach dem Urteil des völkischen Staatsrechtlers Carl Schmitt die „größte Partisanendichtung aller Zeiten“. Schon in diesem Stück sei die deutsche Mentalität insoweit kenntlich, als hier der Held keinen Sinn entwikkeln kann für das Zivile, für ein Leben außerhalb der Imagination, von Partisanen, von Feinden umstellt zu sein.

Der Bielefelder Historiker Klaus Latzel erkannte eine Kontinuität im deutschen Wesen, die das NS-Regime nur bedienen und radikalisieren mußte. Mit Feldpostbriefen wies er nach, daß die Identifikation des Wehrmachtssoldaten mit der Heimat, also auch mit Nazideutschland, nicht über NS-Propaganda erfolgte, sondern schlicht über bürgerliche Vorstellungen vom reinlichen Leben an und für sich: In Osteuropa, hygienisch nicht den Vorstellungen eines auf Ordnung und Sauberkeit manisch getrimmten Deutschen entsprechend, fiel es leicht, dort im Menschen nur dreckige, also minderwertige Wesen zu erkennen.

An dieser Stelle hätte es weitere Fragen gelohnt: Sind die Deutschen nach dem Ende des Vernichtungskrieges gegen das zivilisierte Europa etwa laxer geworden in der Wahrnehmung fremder Kulturen? Ist es nicht noch immer eine Wahnvorstellung, immer sauber zu bleiben? Fühlt sich der gewöhnliche Deutsche nicht nach wie vor von Partisanen – Stichwort: „der Ausländer“ – umzingelt, der seinen Kleingarten bedroht?

Offen blieben so oder so Fragen, die im Kontext des Deutschen und seinen Phantasmagorien erörtert werden müßten: die Angst vor dem Sexuellen (vor allem die vor der weiblichen Partisanin), das Tabu des weichen Mannes und des Homosexuellen, die Furcht vor der Ekstase, die sich nicht mit kriegerischen Bluträuschen stimuliert.

Die Ausstellung wird fortgesetzt, Ende offen. Sie steht künftig unter dem Patronat einer Stiftung, der neben dem früheren österreichischen Bundeskanzler Franz Vranitzky auch Ignatz Bubis, Hans-Jochen Vogel, Burkhard Hirsch und Margarete Mitscherlich angehören.

Die Identifikation des Soldaten mit der Heimat war nicht nur das Ergebnis von Propaganda