Mysterium Vietnam

Voilà voilà: Die vietnamesisch-französische Starchoreographin Ea Sola ist zum dritten Mal auf der „Hammoniale“  ■ Von Thomas Hahn, Paris

Das größte Wunder ist, noch am Leben zu sein und normal denken zu können,“ sagt Ea Sola, wenn man ihren Lebenslauf mit einem Mysterium vergleicht. Wer um sich herum den Tod wüten sah, relativiert auch den erstaunlichsten Parcours. Mit Voilà voilà präsentiert Ea Sola zum dritten Mal eine Choreographie bei dem Frauenfestival Hammoniale.

Die vietnamesisch-französische Choreographin stammt aus dem Hochland des südlichen Vietnam. Im Urwald floh sie vor den GIs, in den Straßen von Paris wählte sie die Reglosigkeit, stand wie am Pranger, stundenlang, ließ sich beschimpfen und bewundern, erfand so, am Rand des Wahnsinns, die Performance-wider-Willen. Und gehört heute zu den Stars auf Europas Bühnen.

Mit Voilà voilà schließt sie einen Zyklus, „Tradition und Modernität“ benannt. Ihre Bühnenwerke tragen stets zeitlose Titel wie Dürrezeit und Regen oder Es ist einmal gewesen. In letzteren, die 1995 und 1997 auf der Hammoniale zu sehen waren, verschmelzen Alt und Neu zu lebenden Bildern, die, reduziert auf minimale Gesten, sich wie ein Mythos tief in das Gedächtnis eingraben. Voilà voilà ist ihre dritte Hommage an die Tradition Vietnams, an das Leben und an die tausendjährige Kultur der Reisbauern. Doch ihre neue Arbeit ist narrativ und entwickelt ihre Dynamik in Etappen.

Der Akt einer Befreiung ist faßbar, auch wenn uns der Unterschied zwischen der höfischen Tuong-Oper und der ländlichen Musik des Chèo aus dem 13. Jahrhundert nicht unmittelbar in den Ohren klingelt. Daß der Tuong das Schicksal von Prinzen und deren Pflichten gegenüber dem König besingt, während der Chèo soziale Ungerechtigkeit anprangert und der Ca Tru, vorgetragen von einer Sängerin in Schwarz, den Rückzug in die Intimität darstellt, lassen wir uns aber gesagt sein – im Namen der Freiheit.

Denn trotz der Entwaldung Vietnams und seiner Verseuchung mit Dioxin und agent orange ist Ea Sola überzeugt: „Nie war der Mensch in Vietnam so frei wie heute.“ Der Feudalismus sei besiegt. „Die KP wird nicht müde zu betonen, wie wichtig es ist, die kulturelle Tradition zu bewahren“, sagt Ea Sola. Was wir in Voilà voilà unmittelbar erkennen, ist, daß die Bambuswände, die den Palast darstellen, nach und nach verschwinden, daß der Dorfplatz den Palast ersetzt, und daß, Symbol der Öffnung, ein Cello gegen Ende die Führung übernimmt.

Noch sind die Körper in traditionelle Gewänder gehüllt, doch bald lösen sich Spannungen und derwischartige Konzentration in Diskussion und Gelächter. Die Sänger-innen tragen grüne Zweige als Symbol des Neubeginns.

Mit professionellen Tänzerinnen arbeitet Ea Sola kaum. Ihre Suche nach Wahrheit geht eher so weit, daß Bäuerinnen auf der Bühne stehen, die persönliches Leid und Hoffnung in neu erfundenen Tänzen ausdrücken. In den traditionellen Tänzen stehen die Gesten für sich, sind nicht kodiert. Für die choreographische Arbeit wird dann jedes Mal bei Null angefangen. Es entsteht eine Gestik, die ähnlich klar-reduziert ist wie bei Wilson. Dessen gespreizt extravertiertem Modell steht als weiblich-asiatischer Pol die intime, introvertierte und daher umso eindringlichere Körpersprache Ea Solas gegenüber. Doch obwohl sie zum zweiten Mal nur für Tänzerinnen choreographiert, verweigert sie sich dem feministischen Ansatz. Denn Ausgangspunkt ihrer Kunst ist nicht der Tanz, sondern die Musik, und die wird mehrheitlich von Männern gespielt.

Daß man Ea Sola als Frauenchoreographin etikettiert, hat mit dem europäischen Blick zu tun, der Tanz und Musik trennt: „In Vietnam werden meine Werke als Einheit wahrgenommen.“

Dennoch haben wir gerade in Voilà voilà genug damit zu tun, uns der Emotion von Gesang und Bewegung hinzugeben. Auch Weltmusikfreunden stehen am 22. und 23. Juni um 19.30 Uhr auf Kampnagel zwei herrliche Abende ins Haus.