Nach dem Wahnsinn

■ Fleißig und kundenfreundlich in die Marktwirtschaft. „Wir machen weiter“, Wolfgang Ettlichs Dokumentarfilm über Träume und Alpträume ist für den Filmpreis nominiert

Es gibt Augenblicke im Leben, in denen man glaubt, man könnte es schaffen. Ganz oben zu sein. Wie beim Schachspiel: Man hat den Bauern in eine Dame umgewandelt und damit die Stellung neu formiert. Man hat bis zum richtigen Zeitpunkt gewartet und dann den entscheidenden Zug gemacht. Und plötzlich ist der Sieg ganz nah, und man setzt alles aufs Spiel. Wahnsinn.

„Wir machen weiter“, ein Dokumentarfilm von Wolfgang Ettlich, beginnt mit dem Augenblick, in dem Jürgen Schütze an seinen Sieg glaubt. An seinen Sieg in der freien Marktwirtschaft. Im blauen Arbeitskittel, mit einem Schlapphut auf dem Kopf steht Jürgen Schütze hinter dem Ladentisch seiner HO-Verkaufsstelle und weiß genau, wie es in Zukunft weitergehen soll: flexibel, fleißig, kundenfreundlich.

Es ist Ende 1989. In Zschopau, der Stadt der Motorräder und Tischtennisbälle, hat die Wende Einzug gehalten. Die Schilder „Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden“ werden abmontiert, und der Tag ist gekommen, sich einen ostdeutschen Traum zu erfüllen. „Frucht-Schütze“ – ein eigener Laden mit Chiquitabananen und anderem exotischen Obst, von dessen Existenz die meisten Zschopauer noch nicht einmal gehört haben. Nur als Zuschauer, zehn Jahre später, ahnt man, wie der Boden schwankt.

Die Schützes indes tauchen in ihr Geschäft ein, wie der Saunagänger ins Wasserbecken: 6.500 Mark Umsatz in zwei Tagen, der erste Urlaub am Tegernsee, der neue VW und ein Pelz für Karin, Jürgens Frau. Bald gehören Schützes zu denjenigen in Zschopau, die „es geschafft haben“. Optimistisch sächsisch feiert man die Wiedervereinigung mit schwarzrotgoldenem Schlips; singt die Nationalhymne (vom Zettel) und begrüßt das neue Deutschland mit den Worten: „Wir räumen jetzt auf.“

Doch nichts bleibt, wie es ist. Mit dem Erfolg kommen auch die Neider; dann die Konkurrenten. Edeka, Spar und Netto. Das Leben gerät unvermutet aus den Fugen, und man muß sehen, wo man bleibt. Schützes ackern und rakkern, verlieren an Gewicht und machen weiter. Kredite, Eigenheim, Mercedes Benz als Untermieter in ihrem Haus. Aber in Zschopau gibt es nichts, worauf man sich stützen kann. Nicht mal auf einen Vertrag mit einer Weltfirma. Schlagartig wird es finster um Jürgen und Karin. Ihre ehemaligen Hoffnungen und Gefühlswallungen brechen zusammen, das Blut wird zäh und schwerbeweglich. Das ist dann der Augenblick, in dem man noch um ein Rémis kämpfen muß.

Zehn Jahre lang begleitete der Regisseur Wolfgang Ettlich die Schützes und dokumentierte an ihnen beispielhaft Höhen und Tiefen der neuen Bundesdeutschen auf dem Weg von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft. Ein Traum, der nicht in Erfüllung ging – unaufdringlich und sensibel präsentiert der westdeutsche Ettlich in ruhigen Bildern ein ostdeutsches Familienschicksal nach dem Ende des Sozialismus. 1989 zufällig in die Stadt unweit von Chemnitz gereist, mietete er ein Zimmer bei den Schützes und begann, im Zuge des Wandels die Probleme des Kapitalismus kritisch zu reflektieren.

„Wir machen weiter“ ist für den Deutschen Filmpreis nominiert, der heue Abend verliehen wird. Man lernt aus diesem Film vor allem eins: Die Welt ist trügerisch, und man kann keiner Sache so sicher sein, daß man später nicht enttäuscht wird. Katja Hübner

Ab 17. 6. in der Filmbühne am Steinplatz