Press-Schlag
: Inkarnation des Dopings

■ Mit Radprofi Virenque als Sündenbock soll das Image der Tour aufpoliert werden

Die Allmacht der Organisatoren der Tour de France ist in der Vergangenheit häufig beklagt worden, doch selten wurde sie so rigoros eingesetzt wie in diesem Jahr. „Wir laden ein, wen wir wollen“, verkündete Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc – und lud zunächst erstmal aus. Radprofi Richard Virenque, dessen Name als „Inkarnation des Dopings“ gelte, sei ebensowenig „willkommen“ wie das niederländische TVM-Team um den Sprinter Jeroen Blijlevens, das sich während der vergangenen Tour davongemacht hatte, sobald die Grenze zur Schweiz überschritten war. Ebenfalls unerwünscht: der damals nach einer Hotelrazzia kurzzeitig verhaftete Arzt Nicolas Terrados vom spanischen Team Once-Deutsche Bank sowie dessen Teamchef Manolo Saiz. Der hatte seine Mannschaft 1998 „unter inakzeptablen Umständen“ (Leblanc) aus dem Rennen genommen und danach geprahlt: „Wir haben der Tour unseren Daumen in den Arsch gesteckt.“ Eine Formulierung, die Leblanc nachtragend in der Rubrik „beleidigende Bemerkungen“ einordnet.

Nach Auskunft von Jean-Claude Killy, Präsident der privatwirtschaftlichen Tour-Gesellschaft, hatten die Veranstalter sogar erwogen, die Frankreich-Rundfahrt 1999 ausfallen zu lassen und so den Satz des Generals de Gaulle: „Es braucht schon einen Krieg, die Tour zu stoppen“, zu widerlegen. Diese Option wurde verworfen, und nun sind Killy und Leblanc entschlossen, alles dafür zu tun, daß die am 3. Juli beginnende 86. Auflage des größten aller Radrennen nicht die letzte wird. Die Opferung von Sündenbock Virenque soll das Saubermann-Image des Jean-Marie Leblanc ausbauen, das sich dieser schon während der Skandaltour 98 durch den Ausschluß des Festina-Teams und eine vorsichtige Kooperation mit den Ermittlungsbehörden zugelegt hat. Emphatisch spricht der Tour-Direktor heute von „Transparenz, Vertrauen, Wachsamkeit“, von einer „Wiedergeburt aus der Katastrophe“ und schwärmt von den „vielen Millionen Radsportfans“, die das Rennen in mehr als 60 Ländern verfolgen. Weniger gern erwähnt er die vielen Millionen Francs, die das Rennen in die Kassen der Tour-Gesellschaft bringt.

Leblancs Strategie der Vertrauenswerbung durch Selbststilisierung zum Edelmann trägt bereits Früchte. „Diese mutige Entscheidung überrascht mich nicht, wenn man die Persönlichkeit des Tour-Direktors in Betracht zieht“, lobte etwa Patrick Keil den Ausschluß von Virenque. Keil ist Untersuchungsrichter in Lille, leitet die Doping-Ermittlungen gegen den Franzosen sowie andere Radprofis und hat ausdrücklich festgestellt, daß aus juristischer Sicht nichts gegen einen Start des bisher nicht verurteilten Virenque bei der Tour einzuwenden sei.

„Die Tour-Organisatoren treffen keine juristische Entscheidung, sondern eine moralische“, hat auch Daniel Baal erkannt. Der Präsident des französischen Verbandes ist eine der wenigen Personen aus dem Radsport-Milieu, die Verständnis für das Vorgehen von Leblanc und Killy haben, das eine neue Qualität im Radsport – und überhaupt im Sport – darstellt. Die hieb- und stichfeste Überführung war bisher das einzige Kriterium, das bei Dopingfällen zählte, die betreffenden Sportler galten als rein und unschuldig, bis sie in der allerletzten juristischen Instanz verurteilt waren. Ein vollkommen rechtsstaatliches Verfahren selbstverständlich, das aber den Beigeschmack der Vertuschung, Halbherzigkeit und Gesundbeterei nie loswurde, weil auf der anderen Seite herzlich wenig getan wurde, die Sünder dingfest zu machen.

Die Tour-Bosse haben im vollen Bewußtsein seiner Fragwürdigkeit den „moralischen“ Ansatz gewählt und werden entsprechend heftig kritisiert. Daß Francesco Moser als Präsident der Radprofi-Gewerkschaft von einer „ungerechten Sache“ spricht, ist kaum verwunderlich. Erstaunlicher schon die Reaktion von Spaniens Sportminister Francisco Villar, der mit seinen europäischen Kollegen schließlich gerade die Verschärfung der Dopingbekämpfung betreibt, aber dennoch „Mißbehagen, Besorgnis und Unverständnis“ über den Fall Once ausdrückte. Manchmal ist der nationale Schatten eben doch länger, als man denkt. Matti Lieske