Projekt einer großen Sprachergreifung

Der Eros der Theorie und das Versprechen von der herrschaftsfreien Rede. Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas wird heute 70. Seit einiger Zeit nähert sich dessen Denken immer mehr dem seines großen Kontrahenten Niklas Luhmann an  ■   Von Reinhard Kahl

Als Student hatte Jürgen Habermas, wie er später schrieb, in der Welt des Philosophen Martin Heidegger gelebt. Die war unpolitisch, auf der Suche nach den Spuren des Seins. Der junge Habermas suchte nach verläßlichem Boden und nach Wurzeln. Ähnlich wie sich die Deutschen in Arbeit und in den Wiederaufbau stürzten, so vertieften sich Studenten wie Jürgen Habermas in die Bücher. Die Welt bekam ihren Ort im Kopf, die anstrengende Arbeit, sie dort immer wieder zu „rekonstruieren“, wurde zur Biographie.

Die Zeit in Gedanken zu fassen, das war und ist für Habermas eine Arbeit, die er in seiner sperrigen Sprache „Rekonstruktion“ nennt. Denn nach dem Zusammenbruch eines verbindlichen, aus der Tradition gespeisten Weltbildes, sah sich Habermas zur Sisyphusarbeit des Puzzlelegens verurteilt. Lauter Teile, und dennoch der Glaube, daß sich diese Teile in eine Ordnung bringen lassen.

Von Horkheimer und Adorno ging das große Versprechen aus, daß Erkenntnis als Entschleierung der Entfremdung selbst schon emanzipatorische Praxis sei, Abkehr vom übermächtigen System des ungelebten Lebens, wie Adorno sagte. Dieser Eros der Theorie ergriff in den 60er Jahren eine ganze Studentengeneration.

„Strukturwandel der Öffentlichkeit“ hieß Jürgen Habermas' erstes Buch, es war seine Habilitationsschrift. Er entdeckte darin eine andere Geschichte als die von Krieg und Bürgerkrieg, von deutscher Vernichtungswut und vom Rückzug aus der Welt. Habermas fand Traditionen der freien Kommunikation. Ihn interessierte die Geschichte der Sprache und vor allem des Sprechens. So wurde Habermas zum Medium vieler Intellektueller seiner Generation. Zugleich war es der Abschied vom murmelnden, introvertierten heideggerschen Sprechen! Das Wort ergreifen, auch wenn es vorsichtshalber lieber schriftlich geäußert wird! Sich frei äußern als ein großes Versprechen. Die Frage, was gesprochen wird, die Frage nach einer Freiheit wozu, sie stellte sich zunächst noch nicht. Kritik wurde eine Art Selbsterschaffungsritual.

Die Anstrengung, die es kostet, Habermas zu folgen, hat dieses erste Buch und auch spätere nicht daran gehindert, erfolgreich zu werden. Nicht nur gemessen an der Buchauflage, sondern vor allem an der Bekanntheit dieser Titel.

Man spürte, daß Habermas in seiner so akademischen Schrift einen großen Bogen vom 17. Jahrhundert zu den Massenmedien spannte und bereits Ende der 50er Jahre mit einem Thema kämpfte, das in der zweiten Hälfte der 60er Jahre mit der Politisierung und Modernisierung der Gesellschaft durch den Studenten- und Schülerprotest an die Spitze der Tagesordnung gesetzt wurde: Demokratisierung, Öffentlichkeit, die große Wortergreifung. Zwischen den zuweilen umständlichen und verrenkten Zeilen führte Habermas ein Selbstgespräch, in dem sich bald eine Generation von Studenten erkannte. Die Titel seiner Bücher wurden zu Parolen, auch wenn der Text für viele hermetisch und für die allermeisten unbekannt blieb.

1968 erschien „Erkenntnis und Interesse“. „Radikale Erkenntniskritik“, so war zu lesen, „ist nur als Gesellschaftskritik möglich.“ Aber Interesse war bei Habermas nie so kurzgeschlossen, wie in vielen Uniseminaren zu dieser Zeit, in denen man über sein Erkenntnisinteresse palaverte und darüber häufig nicht zur Sache kam. Habermas unterschied ein technisches Erkenntnisinteresse, das über die Dinge verfügt, von einem praktischen, das die Dinge in der Lebenswelt zusammenfügt. Und schließlich unterschied er als Drittes ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse, das die Einseitigkeit von Technik und alltäglichem Handeln aufklärt und Einheit stiftet.

Die Domäne des emanzipatorischen Interesses jenseits von Technik und alltäglicher Lebenswelt ist die Sprache. Habermas stieß früh auf die Sprechakttheorie des in Berkeley lehrenden John Searle. Wahrheit begriff er nun nicht mehr als irgendeine Übereinstimmung von Satz und Tatsache, sondern als etwas, das die miteinander Sprechenden, eben dadurch, daß sie miteinander sprechen, erst schaffen. „Jedem Akt des Sprechens wohnt das Telos (also das Ziel, d. Red.) der Verständigung schon inne.“

Sprechend entsteht die Gesellschaft, über die dann nach Mustern von Herrschaft und Ausnutzung verfügt wird. Kommunikation ist in Habermas' Worten „die kontrafaktisch immer schon unterstellte ideale Gesprächssituation eines herrschaftsfreien Diskurses“. Mit der „Diskursethik“ hatte Habermas einen Nenner formuliert, auf den sich fast alles bringen läßt. Aber ein solcher Nenner verwandelt sich flugs vom Vorteil in einen Nachteil, wenn er zum Container für alles und jedes geworden ist. Wird die Theorie leer und tautologisch, wenn damit, was immer der Theoretiker berührt, in sein System einverleibbar wird? Nun ist der Marktplatz gebaut, aber wer geht hin? Was wird gesprochen? Vor allem, was ist der Unterschied, über Dinge zu sprechen oder sie auszusprechen, die Welt zu rezensieren oder an ihr mitzuwirken? Für einen Moment muß man sich noch einmal von der habermasschen Arena distanzieren, um mit Abstand ein wichtiges Konstruktionsprinzip zu erkennen.

Wenn Wahrheiten und Werte nicht mehr selbstverständlich sind, sondern ausgehandelt werden müssen, dann werden die Prozeduren selbst die Substanz, dann wird die Frage nach dem Wie wichtiger als die alte Fragen nach dem Was.

Zumindest theoretisch sind wir befreit vom in unserer Tradition herrschenden Selbstmißtrauen und vom Alb der Autoritäten.

„Die Öffentlichkeit braucht keine Autoritäten ...“ sagte Jürgen Habermas kürzlich im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung, sie braucht „keine Leute wie Heidegger, der mit der Schlüsselattitüde des großen Denkers, aber ohne empirische Kenntnis und politische Urteilskraft eine schlecht informierte Zeitdiagnose in Umlauf gesetzt hat, die bis heute andächtig rezipiert wird“.

Das ist unsere historische Situation: Der alte Himmel der Autoritäten und Weissagungen ist geräumt, die Erde wird endlich irdisch. Aber wo sind die Lust und das Selbstbewußtsein, sie zu bewohnen, sie nicht nur zu beackern und zu verzehren? „Das Bewußtsein der Endlichkeit ist eine notwendige Bedingung für den richtigen Gebrauch dieser menschlichen Freiheit“, und für den Gebrauch dieser menschlichen Freiheit gibt es einen Namen: Politik. „Nachdem der Marxismus seine Antriebskraft verbraucht hat, haben wir in unseren Breiten eher zu wenig als zu viel Vertrauen in die politische Kraft des Machbaren. Heute beunruhigt mich vor allem das Phänomen, daß sich gleichsam die Politik selber abwickelt – und alle konsterniert zuschauen. Das ist die falsche Ratlosigkeit.“

Wie und wohin es weitergeht, das weiß keiner, und daß wir das wissen, ist sogar ein Zivilisationsgewinn, auch wenn das Eingeständnis frösteln macht. Aber man könnte es doch gemeinsam herausfindend erfinden? Damit befinden wir uns wieder mitten im habermasschen Diskurs. Wie finden Menschen heute heraus, was sie wollen? Wo und wie entsteht politischer Wille?

„Bisher gab es nur im nationalstaatlichen Rahmen Demokratien, die halbwegs funktionieren, wo also Bürger ihre Regierungen abwählen und auf einige Entscheidungen Einfluß nehmen können. Aber heute macht ein Regierungswechsel kaum noch einen Unterschied, weil das transnationale Wirtschaftssystem den Handlungsspielraum nationaler Regierungen immer stärker einschränkt. Mit der Politik selbst stirbt aber auch der politische Wille ab.“

In der mobilen Überlebensgesellschaft bilde sich, so Habermas, ein neuer Fatalismus aus. Von dem religiös verankerten Fatalismus der Menschen in den alten Reichen unterscheide sich der neue nur in seinen Motiven. Die Lösung? Keine Lösung aus dem Mund des uns entlastenden Wissenden, nur der Hinweis auf den Ort, von dem aus Lösungen zu konzipieren sind: „Die Abwärtsspirale“ sagt Habermas in seinem jüngsten Interview „könnte nur durch eine selbstbezügliche Politik gebremst werden, die auf die Erweiterung politischer Handlungsmöglichkeiten, den Aufbau neuer Kapazitäten oberhalb und unterhalb der nationalen Ebene abzielt.“

Nötig wird eine Politik, die sich beobachtet, die ihre Handlungen nicht nur auf die beabsichtigten Folgen hin kontrolliert, sondern ihren Blick auf die unbeabsichtigten Nebenfolgen ausdehnt.

An dieser Denkfigur wird deutlich, wie sehr sich Jürgen Habermas den Vorstellungen seines einstigen Kontrahenten, des verstorbenen Niklas Luhmann, angenähert hat. Denn wir wissen eben nicht so genau, was wir tun, zumindest nicht vorher.

So werden Beobachtung und Selbstbeobachtung und das nicht abreißende Gespräch über die sich dauernd verändernden Situationen wichtiger als alles noch in der Tradition der selbstgerechten Predigt verfangene Reden über Absichten. Die Politik, die wir so nennen, die gewöhnliche Politiker-Politik, zeichnet sich als trübe Provinz dieses schwachen Redens über Absichten aus, fernab der selbstkritischen Reflexion, also der aufgeklärten Selbstbezüglichkeit.

Angesichts dieses neuen Themas wirkt das habermassche Denken allerdings doch ohnmächtig. Denn was die Lebenswelt ausmacht, das hat er immer als selbstverständlich vorausgesetzt oder für kein Thema universalistisch auftretender Theorieanstrengungen gehalten.

Der junge Philosoph Ludger Heidbrink formuliert das Befremden der auf Habermas folgenden Generation. „Das Theoriegebäude des Sozialphilosophen gleicht einer Kathedrale. Ehrfürchtig tritt man ein, beeindruckt vom gewaltigen Bauplan in seinen endlosen Verästelungen, und bleibt doch seltsam unberührt von der Pracht.“

Das nicht abreißende Gespräch ist wichtiger als die selbstgerechte Predigt über Absichten