Bloß kein Kleinkrieg im friedlichen Jostal

Mißlungene Vergangenheitsbewältigung im Schwarzwald: ein kritisches Stück über die Nazizeit wird nicht aufgeführt  ■ Von Jens Rübsam

Durchs Jostal zieht ein alter Mann von Hof zu Hof. Es ist der Heimatdichter Günter Koppenhöfer, Jahrgang 13. Auf seinem Kopf sitzt ein verknautschter Lederhut, ohne den er das Haus grundsätzlich nicht verläßt. Um seinen schmächtigen Rumpf schlappt ein Wollpulli, darunter ein rot-weiß kariertes Hemd. Seine Hände sind fest in die Taschen seiner braunen Hose gestemmt.

„Wie kann ich die Ziit vergesse?“ fragt der Felix, der sich einst als Hirtenbube bei einem Bauern verdingte, zu seinem alten Dorfschullehrer. „Ich bin doch einer vu dene gsi, die me sterilisiert hätt'.“

Geschmeidig windet sich die Jostalstraße von Neustadt Richtung Höhenstraße Furtwangen. Am Wegesrand, auf satten Wiesen, stehen feine Bauernhöfe, hübsch verteilt wie Hütchensteine auf einem großen Brettspiel. Den Weg zu ihnen weisen kleine Holzpfähle mit geschwungenen Schriftzügen: Benedikterhof, Hasenmühle, Grießbachhof. Hier biegt der alte Landpoet Koppenhöfer ab. Es riecht nach Arbeit, nach Kühen und nach Mist.

„Aber Felix“, sagt der Dorfschullehrer, „was habe ich damit zu tun? Das waren doch alles Befehle von oben, vom Kreisschulamt, vom Gauleiter persönlich, vom Führer selbst.“

Der Mann, von dem man sagt, er habe mit seinem Theaterstück „Die Schatten der Vergangenheit“ Unruhe ins friedliche Jostal gebracht, klopft an beim Ketterer Sepp, der den Grießbachhof bestellt. Vom diesem wird gesagt: Wenn überhaupt einer schwätze über die Aufruhr im Jostal, dann er. Denn Schwarzwälder schwätzen nicht gern und schon gar nicht über die Zeit des Nationalsozialismus. Und nun ist nicht mal der Ketterer Sepp auf seinem Hof.

Schwarzwälder schwätzen nicht gern über die Nazizeit

„Der Schwarzwald, seine Bevölkerung, sollte gereinigt werden“, fährt der Dorfschullehrer fort. „Zu viel ineinander eingeheiratet, Vetter zu Bäsle. Die Dubel und Schwachköpfe sollten nicht mehr weiter zeugen dürfen.“

Man hört nun den alten Koppenhöfer hartnäckig rufen vor dem Haus vis-à-vis vom Grießbachhof. Es knarrt eine Tür. Ein junges Paar tritt heraus. Sie seien, sagen sie, erst fünfundzwanzig Jahr im Jostal ansässig, also keine richtigen Jostäler und nicht geeignet, Auskunft zu geben zu einem so heiklen Thema. Der alte Koppenhöfer ist ein Mann mit bodenständiger Schläue. Als er an diesem schönen Sonntag nachmittag bei den Zugezogenen am Stubentisch sitzt, fragt er erst einmal spitzbübisch nach, ob sie wüßten, warum die Jostäler Theatergruppe die Wäldergeschichte namens „Die Schatten der Vergangenheit“ so plötzlich vom Spielplan genommen hat. Und erst dann gibt er sich zu erkennen: „Ich bin der Autor des Stückes. Ich bin der Günter Koppenhöfer von Mundelfingen.“

„Du darfst mir ruhig glauben, Felix“, sagt der Dorfschullehrer, „ich habe dich beschützt, so gut ich konnte.“

Wäre schon furchtbar gewesen, wenn sie an lauen Sommerabenden auf ihrer Bretterbühne vorm Grießbachhof Koppenhöfers beißende Zeilen hätten aufsagen müssen: Daß Buben aus ihrem Tal sterilisiert wurden, weil sie als Schwachköpfe galten; daß es der eigene Dorfschullehrer war, der sie weitergemeldet hat; daß bei ihnen im Jostal Inzest getrieben wurde, Vetter zu Bäsle; daß sich Bauern an Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine vergangen haben. Weiß Gott, der Schwarzwald hat schönere Geschichten geschrieben.

„Du häsch alle“, sagt der Felix zum Dorfschullehrer, „die schlechte Note g'ha hont, dem Schulamt g'meldet. Je mehr du g'meldet häsch, um so mehr bisch du g'lobt worde.“

Im Haus vis-à-vis vom Grießbachhof hocken nunmehr der Dichter und die Zugezogenen bei Kaffee beieinander und halten Geschichtsstunde. Der alte Koppenhöfer zitiert aus seinen Recherchen. 1933: Die Zwangssterilisation wird von den Nazis durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ legitimiert. Bis zum Ende des Krieges werden Hunderttausende Zwangssterilisationen durchgeführt. Ihr Ziel: „Schaffung einer glücklicheren und gesünderen Gesellschaft“. Betroffen sind auch viele Kinder, denen „Schwachsinn“ bescheinigt wird. Im Schwarzwald beginnt alsbald nach der Machtergreifung die „Aktion Sauberer und Erbgesunder Schwarzwald“. Für die Nazis galt der Dorfschullehrer aus dem Jostal, ein „brutaler Hund“, wie er hier noch heute genannt wird, als Meldegarant. Gemeldet wurden auch Hirtenjungen. Und kurz vor Ende des Krieges wurden 256 „aussortierte“ Buben und Mädchen im Konzentrationslager Grafeneck umgebracht.

„Als der Schulrat komme isch zum Prüfe“, sagt der Felix zum Dorfschullehrer, „häsch du uns vorher e Rechnung uswendig g'lehrt. Der Schulrat aber hätt' ebbis ganz anderes g'froget. Aber des hät koen vu is Buebe g'wißt. Des hät koen könne usrechne. Druf hont mir alle schlechte Note überkumme und sind als Schwachköpf g'meldet worde.“

Jetzt erscheint der Ketterer Sepp in der Stube der Zugezogenen. Er trägt einen grauen Haarkranz und einen wohligen Bauch. Seine Hände sind mächtig und seine Blicke mißtrauisch. In der letzten Saison – gegeben wurde der „Bildhauer vom Fallengrund“, eine lustige Geschichte von Klosterbrüdern – spielte er einen Mönch, eine Rolle mit einer einzigen kleinen Stelle Text. Seitdem gilt er als geschwätzig.

Schlechten Schülern drohte die Zwangssterilisation

„Was“, fragt ihn nun der Dichter Koppenhöfer, „was, Herr Ketterer, waren die Gründe für die Absetzung meines Reigens?“ „Verschiedene“, sagt der Ketterer Sepp. „Die armen Hirtenbuben wären rehabilitiert worden“, sagt der Dichter. „Betroffene Familien waren dagegen“, sagt der Ketterer Sepp. „Die Nazizeit soll hier einfach totgeschwiegen werden“, sagt der Dichter. „Manche hier im Tal meinen, gerade die Nazizeit hätte man weglassen sollen“, sagt der Ketterer Sepp.

„Das sind Märchen, böswillige Märchen!“ schreit der Dorfschullehrer den Felix an. „Mir arme Hirtebuebe hont doch nit viel Ziit g'ha zum Lehre oder gar in d'Schuel gange“, erwidert der Felix. „Bi Wind und Wetter sind mir duse g'stande. Und deno kummt der eigene Lehrer, meldet eim, obwohl er genau weiß, daß mir fortkumme und sterilisiert werde.“

Die Zugezogenen servieren Himbeerschnaps und merken beiläufig an: Für ein Thema wie die Nazizeit sei die Bühne vielleicht nicht der rechte Ort der Aufarbeitung. Die Leute, die sich sommerwochenends um 20.15 Uhr vor ihrem Haus um die Bühne plazieren, würden Unterhaltung wollen, mal grölen und mal schreien. „Das Stück ist viel zu schwach“, entfährt es plötzlich dem Ketterer Sepp. „Der Dorfschullehrer war ein richtiger Nazi. Der hat richtig zugeboxt.“ Der Mann, dem man an Worten nicht mehr zugetraut hat als jene, die er morgens seinem Jungvieh zuteil werden läßt, tapst durch ungewohnt große Satzmengen. Nicht nur Kinder aus dem Jostal seien sterilisiert worden, nein, auch ein Familienvater mit sechs, sieben Kindern. Seine Frau habe trotzdem wieder Kinder geboren. Der Nachbar sei zu ihr rübergeschlichen. Und der Mann, sterilisiert, habe weiter auf dem Hof geschafft. „Alles ist noch viel schlimmer“, sagt der Dichter Koppenhöfer. Der alte Landpoet zieht weiter. Vom Grießbachhof hinauf zur Hasenmühle, dem Hof und der Landbäckerei von Albert Beha, dem Jostäler Heimatregisseur. Bisher hat Günter Koppenhöfer nicht viel mehr über die Absetzung seines Stückes erfahren, als er sowieso schon wußte. Der Sprecher der Theaterleitung ließ mitteilen: „Da in einigen Szenen gewisse Ähnlichkeiten zu einzelnen Familiengeschichten bestehen könnten, haben wir auf eine Aufführung verzichtet.“ Zugetragen wurde Koppenhöfer auch, daß sich die Familie des Dorfschullehrers angegriffen fühle; daß sich Familien schämten für ihre Onkel und Großonkel; daß es Drohungen gegen Mitglieder der Theaterleitung gegeben habe; daß versucht wurde, die Aufführung sogar juristisch per einstweiliger Verfügung zu unterbinden; daß die einen genug hätten von der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die anderen keinen Kleinkrieg im Dorfe wollten.

Jeder kennt hier jeden. Und noch besser den anderen

Nicht mehr als 200 Einwohner zählt das Jostal. Auf den Höfen sitzt man in drei Generationen am Küchentisch beisammen. Jeder im Tal kennt jeden. Und erst recht den anderen und dessen Geschichte.

„Wenn du unter einem Kruzifix stohst“, sagt der Felix zum Dorfschullehrer, „stoht do nit dine Vergangenheit in dir uf? Dine böse Tate?“

Albert Beha empfängt den Besuch in der „Hasenmühle“ mit einem kräftigen Handschlag, scherzt über seine mächtigen Bäkkerhände. Mit fast siebzig ist er noch immer am Teigkneten, trotz seiner Beschwerden, die jetzt, im Alter, nicht geringer werden. Seit Kindertagen ist Beha „ein Krüppel“, im rechten Bein fehlen ihm die Oberschenkelmuskel. „Im ersten, zweiten und dritten Schuljahr“, sagt er leise und schaut dabei so ängstlich durch den Raum, als dürfe es niemand hören und niemand wissen, „im ersten, zweiten und dritten Schuljahr bin auch ich vorgeladen worden.“ Menschen mit einer Behinderung galten den Nazis als „lebensunwert“ und wurden „weggeschafft“. Albert Beha hatte Glück.

„Nur so, durch Sterilisation, ist es uns möglich, den Schwarzwald rein und gesund, vor allem erbgerecht zu erhalten!“ schreit ein Gauleiter in einer Versammlung mit SS-Leuten. „Ich danke“, fügt er hinzu, „den Schulämtern, Schulleitern für ihre Mithilfe.“

Im Hause Beha hängen die Kruzifixe an den Wänden wie andernorts die Urlaubsbilder. Albert Beha führt weiterhin das Wort, und Dichter Koppenhöfer, müde geworden, hört geduldig zu. Wie der Regisseur beschwichtigt: „Innerlich bin ich heute noch für das Stück. Denn es ist wichtig, der jüngeren Generation zu sagen: Was hieß Diktatur? Was heißt Diktatur?“ „Eines verstehe ich nicht“, rafft sich der Dichter Koppenhöfer auf zu einer letzten Frage, „warum haben sie und ihre Theatertruppe nicht mehr Mut gehabt?“ „In der Talschaft will man das Stück eben nicht“, gibt sich Beha knapp. Es ist seine letzte Saison als Jostäler Theaterregisseur.

Auf der Theaterbühne vorm Grießbachhof wird nun „Der Königenhof“ gegeben. Ein Stück, ausgegraben aus dem Fundus: Ein Bauernhaus wird von einer Lawine überrollt. Siebzehn Tote sind zu beklagen.

Kursiv gesetzte Textstellen aus „Die Schatten der Vergangenheit“ von Günter Koppenhöfer