Absolute Stimmenverluste bei allen Parteien

■ betr.: Berichterstattung zu den Europawahlen, taz vom 14. 6. 99

Der mündige deutsche Wahlbürger hat Europa die kalte Schulter gezeigt. Diese Reaktion ist durchaus verständlich, denn die etablierte Politik-Goliath-Kaste aus allen Lagern hat die Deutschen zu keinem Zeitpunkt aktiv an dem Prozeß der europäischen Einigung beteiligt. Offenkundig aus Angst vor dem unkontrollierbaren demokratischen Gestaltungswillen des „deutschen Volkes als dem eigentlichen Souverän unseres Staates“ gibt es in unserem Grundgesetz unverständlicherweise keinerlei Möglichkeiten einer Volksabstimmung. So konnte in Deutschland, als dem größten EU-Staat, im Gegensatz zu allen anderen Ländern, die Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt darüber entscheiden, ob sie die Maastricht-Verträge als vertragliche Grundlage der EU wirklich billigen.

Diese Frage war deshalb von so großer Bedeutung, weil sie einen weitgehenden Souveränitätsverzicht unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaates bedeutet. Mit dem so über unseren Kopf hinweg entstandenen technokratisch-elitär-bürokratischen bügerfernen „Europa der Konzerne“ haben sich viele Menschen nie identifizieren können. Deshalb haben sie dieses Europa mit Mißachtung gestraft – tragischerweise zum eigenen Nachteil, denn es hat bereits heute etwa 60 Prozent Gesetzgebungskompetenz und bedürfte dringend unserer Aufmerksamkeit und qualifiziertester Kontrolle. Bernhard Fricke, Vorsitzender von David gegen Goliath, München

[...] Weil die Mehrheit der WählerInnen mit der Politik der Verschuldung und des Ausverkaufes von Bundesvermögen zur Finanzierung der Umverteilung von unten nach oben sowie mit der Stagnation der Politik nicht mehr einverstanden war, wählten sie bei der letzten Bundestagswahl die SPD. [...] Als es die SPD danach zuließ, daß die selbsternannten „Macher“ und „Modernisierer“ W. Clement, B. Hombach, G. Glogowski und mehrere andere, ebenfalls sehr umstrittene, jedoch sehr machtbesessene Personen in Amt und Würden gehievt wurden, erkannten auch die Wechselwähler schon bald, daß es wohl doch besser gewesen wäre, anstatt dieser Kopie doch gleich besser das Original zu wählen. Dagegen hatten die sozialdemokratischen Stammwähler bei der Bundestagswahl noch darauf vertraut, daß die Partei nur aus taktischen Gründen so operieren und keinesfalls auf solche „Dummschwätzer“ hereinfallen würde, sondern vielmehr nach der Wahl auf der Grundlage sozialdemokratischer Grundsätze handeln würde. Sie wurden dann jedoch bitter enttäuscht! Die Reichen werden nicht nur weiterhin geschont, sie werden vielmehr weiter steuerentlastet, obwohl sie bisher schon kaum Steuern entrichtet haben. Die kleinen Leuten müssen weiterhin die Zeche zahlen! [...]

Das Buch des Herrn Hombach und das neueste „Blair/Schröder-Papier“ zeigen, daß deren Autoren aus der bisherigen Partei der ArbeitnehmerInnen und kleinen Leute nun einen arbeitgeberfreundlichen FDP-Ersatz machen wollen. Dafür erhielt auch die Labour-Party bereits die verdiente Quittung.

Als dann die rot-grüne Regierung den Nato-Angriff auf Jugoslawien auch noch voll mittrug, statt sich auf ihre Grundsätze zur nichtmilitärischen Konfliktlösung zu konzentrieren, lief bei überzeugten Sozialdemokraten und Grünen sowie bei ihren Sympathisanten das Faß endgültig über. Weil nämlich solche Menschen von ihren Grundsätzen fest überzeugt sind, können sie nicht einfach aus Protest andere Parteien wählen, schon gar keine rechten Parteien. So blieb ihnen dieses Mal nichts anderes übrig, als nicht zur Wahl zu gehen. Die Ergebnisse in den sogenannten SPD-Hochburgen beweisen dies deutlich! [...] Werner Ortmann, Korschenbroich

Leider hat die taz nicht die absoluten Stimmenzahlen veröffentlicht, die aber gerade bei einer niedrigen Wahlbeteiligung wichtig sind und ganz andere Interpretationen zulassen. So hat die CDU, die gefeierte Gewinnerin im Vergleich zur Bundestagswahl 1998 (alle anderen Zahlenvergleiche beziehen sich ebenfalls darauf) über vier Millionen Stimmen verloren, das sind 23 Prozent weniger als das für die CDU damals schon schlechte Ergebnis. Übrigens hat sie auch gegenüber der letzten Europawahl fast 4,5 Prozent der Stimmen verloren. Das heißt, die CDU hat kein neues Vertrauen von Wählern und Wählerinnen gewinnen und mobilisieren können, auch wenn es anhand der Prozentzahlen so erscheint. Die ausschließliche Auswertung der Prozentzahlen in den Medien macht im Moment eine öffentliche Stimmung für die CDU und damit für die scheinbare mehrheitliche Akzeptanz von neoliberaler Politik, für die es keine Basis gibt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die katastrophalen Stimmenverluste für die SPD fast zwölf Millionen, also zirka 51 Prozent und für die Grünen zirka eineinhalb Millionen Stimmen, das sind 43 Prozent, doppelt soviel betragen. Diese absoluten Stimmenverluste bei allen Parteien können genausogut als Zeichen gegen den Neoliberalismus gewertet werden, besonders wenn das erfreuliche Wahlergebnis der FDP hinzugenommen wird. Doch scheint dies die Parteien nicht zu interessieren, wichtig sind nur die Prozentzahlen, das heißt die Parlamentssitze. Die Wählerinnen und Wähler und ihre Gründe, im Gegensatz zum Oktober nicht zur Wahl gegangen zu sein, scheinen weniger das Interesse zu wecken.

[...] Es scheint eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit angesichts der Tatsache zu sein, daß sich bei SPD und Grünen, in die von ihrer Klientel doch zumindest gewisse Hoffnungen und Ansprüche gesetzt wurden, in einer unglaublichen Geschwindigkeit herausgestellt hat, daß die Programme, wofür sie gewählt worden sind, Makulatur sind. Konsequenterweise geben beide Parteispitzen nun auch nach der Wahl bekannt, so weitermachen zu wollen wie bisher, also das Politische dem Ökonomischen und auch dem Militärischen unterzuordnen – als wäre nichts geschehen. [...] Monika Domke, Köln