„Das sind jetzt die Tage der großen Anarchie“

Weder Nato noch UÇK können Ordnung im Kosovo garantieren. Zivilverwaltung dringend notwendig    ■ Aus Prizren Erich Rathfelder

Nachdem die serbischen Truppen am letzten Montag aus Prizren ohne große Zwischenfälle abgezogen waren, tauchten kurz darauf die ersten Kämpfer der UÇK im Zentrum auf. Während die Bevölkerung feierte, standen die UÇK-Soldaten mit ernsten Gesichtern abseits. Mit ihren deutschen oder schweizerischen Uniformen mit den UÇK-Emblemen und den Kalaschnikows in den Händen, etablierten sie sich sofort als Ordnungsmacht. Obwohl schon deutsche Panzer in den Straßen standen, postierten sich bewaffnete Kämpferinnen mit schwarzen Baskenmützen auf lohendem Haar an den Straßenkreuzungen. Erste Plünderungsversuche von Jugendlichen wurden von UÇK-Soldaten verhindert.

Es handelte sich um jene Truppen, die unter den Kommandeuren Hodsha und Liri in der Region gekämpft hatten. Schon am Dienstag aber tauchten UÇK-Leute aus Albanien auf. Die Etappe übernahm das Kommando. Die nach dem Auszug der Serben verlassenen Verwaltungsgebäude wurden besetzt. Der alte, nach Abschaffung des Autonomiestatus 1989 von den Serben abgesetzte Bürgermeister Kadris Kryesin wurde wieder in sein Amt eingesetzt. Verwaltungsaufgaben wurden von der UÇK übernommen.

Gerüchte , wonach es zu Übergriffen an den in Prizren gebliebenen Serben gekommen sei, machten die Runde. Ein orthodoxer Mönch wurde am Dienstag von UÇKlern aus dem Auto geholt und ist seither verschwunden. Es gibt Augenzeugen für diesen Vorfall. Serbische Jugendliche wurden zusammengeschlagen. Rund 150 Serben verschanzten sich im orthodoxen Kloster. Der orthodoxe Bischof von Prizren, Artemje, der immer die Serben aufgefordert hatte, in der Stadt zu bleiben, verließ am Mittwoch die Stadt noch vor den im Kloster befindlichen Gläubigen. Die Sicherheit der Serben sei nicht gewährleistet. Der demonstrative Akt des Kirchenfürsten mag Propaganda sein, die serbischen Wohnungen aber wurden teilweise von Kriminellen, teilweise unter Mithilfe von UÇK-Kämpfern durchsucht und auch ausgeraubt.

Es ist eine unübersichtliche Lage entstanden. Das Verwaltungssystem ist zusammengebrochen, kann aber durch die UÇK nur unzureichend ersetzt werden. Die Polizeifunktionen werden nur sporadisch wahrgenommen, es fehlt den UÇK-Leuten an Ausbildung und Know-how. Manche von ihnen beteiligen sich an Übergriffen, andere versuchen gerade diese zu verhindern. Es sind jetzt „Tage der Anarchie“ wie es die UÇK-Leute selbst ausdrücken.

Wo aber bleibt die Ordnungsmacht, die Nato, wo sind die deutschen Truppen? Ihre Präsenz in den Straßen der Stadt hat abgenommen, weil die Truppen im gesamten „Besatzungsgebiet“ aktiv geworden sind. Die Deutschen setzen immerhin einige Zeichen: Sie verhinderten durch Truppenpräsenz die Übernahme der Grenzkontrolle durch die UÇK-Leute und ersetzen die UÇK-Flagge an der Grenze durch eine Nato- Fahne.

Brigadegeneral Fritz von Korff hat mehrmals darauf hingewiesen, daß bisher noch kein Abkommen über die Entwaffnung der UÇK bestünde. Immerhin hatten gestern, US-Angaben zufolge, Führer der UÇK die prinzipielle Bereitschaft erklärt, ihre Waffen abzugeben. Doch Generalleutnant Rüdiger Drews sprach der UÇK auch jegliche Legitimation ab, als Ordnungsmacht aufzutreten.

Nur, was dem folgen soll, bleibt unklar. Die für den Aufbau der Zivilstrukturen zuständigen internationalen Berater sind noch gar nicht vor Ort. Die großen Organisationen zeigen sich wieder einmal wenig flexibel. Die Nato-Truppen sind bei der Frage der Sicherung der Wasserversorgung oder der Benzinverteilung ebenso überfordert wie bei der Einfuhr von Lebensmitteln, Fragen des Rentensystems und der Zölle. Polizeifunktionen wahrzunehmen scheitert schon an den mangelnden Sprachkenntnissen. Wer spricht in der Truppe schon Serbisch oder Albanisch?

Doch eine zivile Verwaltung muß schnell aufgebaut werden. Kommunale Wahlen werden angesichts des fehlenden Wählerregisters wohl einige Zeit auf sich warten lassen, so ist es notwendig, die bisher bestehenden politischen Parteien wie auch die UÇK in diesen Prozeß einzubinden. Die UÇK versucht, in das politische Vakuum einzudringen, das mit dem Zusammenbruch des serbischen Herrschaftssystems enstanden ist, sie sollte deshalb aber nicht dämonisiert werden. Ihre Kämpfer sind keine Verwaltungsbeamten und auch keine Polizisten. Manche von ihnen könnten es aber werden – mit internationaler Hilfe.