Stramme Jungs im Spreenebel

■ Leibhaftige Signalgeber zwischen den Spielstätten: Das Lotsenprojekt im Rahmen des Festivals „Theater der Welt“

Das Meer ist weit, weit weg von Berlin. Dennoch stolpern Passanten in diesen Tagen unerwartet über Matrosen. Die marineblau uniformierten Kerle kreuzen plötzlich auf Plätzen und Spreekähnen auf, legen am anderen Ufer ein flottes Tänzchen auf die Kaimauern, singen Seemannsschnulzen in der S-Bahn und winken schwermütig mit roten Flaggen von Dachgiebeln, als stünden sie am Heck massiger Dampfer: Blickfänge, um die ein Hauch von Brackwasser und Fernweh streicht. Sail away – dream your dreams. Dies ist kein Landgang einer vergessenenen Flotte, keine Werbeveranstaltung für „Küstennebel“: Die „Signalgeber“ signalisieren Theater.

In der Regie von Frank Düwel hat die Theaterproduktion Norden die Rahmung des Festivals „Theater der Welt“ übernommen. Auch in den kommenden zwei Wochen werden 16 eigens für das Projekt gecastete Lotsen – vom Profitänzer bis zum Sportstudenten – an exponierten Orten Berlins auftauchen; zum ikonographischen Wegweiser verdichtet, halten sie außerdem auf Plakaten, Programmheften und im Internet die Flaggen hoch.

So, wie das Meer die Kontinente verbindet, sollen die leibhaftigen Signalgeber zwischen den Spielstätten virtuelle Wasseradern fließen lassen, die Stadtlandschaft theatral strukturieren und zugleich kleine Irritationen streuen. Frank Düwel, Dramaturg und Regisseur am Lübecker Stadttheater, betrachtet das Lotsenprojekt jedoch nicht als artifizielle Kommunikationsperformance oder semiotisches Exerzitium, sondern als nordische Variante des mediterranen Straßentheaters; eine Koppelung tradierter Volkstheaterelemente mit bedachtsam recherchierter Küstenmythologie und plattdeutscher Kühle.

Diesen „fliegenden Holländer ohne Kapitän“ konzipierte Düwel erstmals zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Hans Henny Jahnn: mit Matrosen als Sehnsuchtsfiguren – des Unsteten im allgemeinen, der schwulen Community im besonderen – sowie dem schönen Paradoxon, literarische Texte durch den internationalen Flaggencode nicht verständlicher zu machen, sondern zu verschlüsseln. Trotz dieser Entstehungsgeschichte wecken manche Auftritte eigentümliche Assoziationen. Der wilhelminische Flottenspleen fällt einem ein, auch die preußisch-deutsche Freude an exerzierenden „strammen Jungs“.

Doch das Unbehagen zerstreut sich ebenso schnell wie die kleine Matrosengruppe: Hier fehlt jeglicher Drill, jeder Anflug von Synchronismus wird sofort gebrochen. Statt dessen improvisieren die Darsteller augenzwinkernd über eine feierlich-verspielte Seefahrerromantik, wenn sie dem Publikum Joseph Conrads melancholisch-morbides „Herz der Finsternis“ zuwinken. Eva Behrendt

Bis zum 4. 7. auf Wasserstraßen und Plätzen der Stadt, am 4. 7., 24 Uhr, Auswinken des Festivals am Schloßplatz, Mitte