Die Zwangsjacken warten schon

„Piano, piano“: Nach dem Aufstieg will der SSV Ulm 1846 nicht in Panik verfallen und mit bewährter Tiefstapelei auch in der Bundesliga bestehen  ■ Aus Ulm Thomas Becker

Als alles vorbei war, stand Erich Steer ein wenig abseits, die Hände tief in den Hosentaschen, kaum einen Blick für den Trubel ein paar Meter neben ihm. Mit der Fußspitze fuhr er sacht über den Rasen und dachte wohl schon an das, was jetzt alles auf ihn zukommen wird als Manager eines Bundesligaklubs. Zeit zur Besinnung bekam er nicht. Jeder fiel dem rotblonden Macher des SSV Ulm nun um den Hals, bis er sich schließlich in die jubelnde Menge ziehen ließ. Doch auch dort blieb Steer ganz Organisator und verteilte zunächst einmal die T-Shirts: „Der absolute Wahnsinn – Aufstieg 1999“.

Nach dem 0:0 gegen Fürth ist der SSV Ulm 1846 in der Bundesliga. Der Durchmarsch von der Regionalliga in die höchste Klasse gelang bis auf den Australier David Zdrilic mit exakt derselben Aufstellung. „Wenn einer vor einem Jahr öffentlich vom Durchmarsch geredet hätte, wäre er wohl mit einer Zwangsjacke in eine geschlossene Anstalt eingeliefert worden“, sagte Erich Steer. Wohl wahr: Mit seinem Mini-Etat von fünf Millionen Mark galt der Aufsteiger als Abstiegskandidat Nummer eins. Das sollte sich schnell ändern: das erste Heimspiel gewonnen, beim Aufstiegsaspiranten KSC ebenfalls und im dritten Spiel Bielefeld mit 6:2 abgewatscht – Tabellenführung. 16 Spiele lang blieb das Team von Trainer Ralf Rangnick unbesiegt und erwarb sich dank dessen taktischer Finesse den Ruf, den Fußball neu erfunden zu haben: Viererkette, ballorientierte Gegnerdekkung, das alles eloquent im „Aktuellen Sportstudio“ vorgetragen.

Das sprach sich rum. Rangnick ging unter mächtigem Rummel zum VfB Stuttgart: Nach drei Niederlagen in Folge wechselte er bereits Mitte März anstatt erst zum Saisonende, Ulm rutschte auf Platz 7. Steer blieb ruhig, verpflichtete den weithin unbekannten Schweizer Martin Andermatt und amüsiert sich noch heute über das allgemeine Desinteresse damals. „Beim Hallen-Masters in Stuttgart haben wir stundenlang miteinander gequatscht, kein Mensch hat Martin gekannt. Die wollten alle nur den Mayer-Vorfelder.“ Andermatts gelassene, pfiffige Art kam bei den verunsicherten Kickern: Von elf Spielen verlor man nur noch zwei. Daß die treffsicherste Mannschaft der Liga ausgerechnet im letzten Heimspiel erstmals kein Tor schoß, war schnell verziehen. 19.500 Zuschauer sorgten zum ersten Mal seit fast fünf Jahren für ein ausverkauftes Donaustadion; ebenso viele verfolgten die Partie auf einer Großbildleinwand auf der Gänswiese, wo danach bei Freibier, Feuerwerk und Sambashow bis in die Nacht gefeiert wurde.

Die Begeisterung der Fans aus dem fußballentwöhnten Ulmer Hinterland wird noch ein Problem werden, fürchtet Spielleiter Steer. Ganze Waschkörbe voller Faxe mit Kartenwünschen für die nächste Spielzeit gingen schon in der Geschäftsstelle ein: „Eigentlich ist die Saison schon ausverkauft. Wir mußten die Vorbestellung stoppen“, sagt Steer. Ein Stadionausbau kommt nicht in Frage; im Frühjahr wurde erst die neue Gegentribüne eingeweiht. Oberbürgermeister Ivo Gönner, der sich sein „Viertele Wein“ für die Halbzeitpause immer selbst mitbringt (“Ein Roter aus Weinsberg“), spricht von mobilen Tribünen – aber alles zu seiner Zeit. „Ich sag' immer: Piano, piano.“

Bundesliga in Ulm: Man kann es sich nicht so recht vorstellen. Selbst vor diesem „Spiel der Spiele“ blickte man in der Stadt, in der Metzgereien Fleischerfachgeschäft heißen, Hotels und Kneipen Namen tragen wie „Goldener Bock“ oder „Mamas gute Küche“ und in der es Läden gibt wie das „Teppichhaus Eierstock“, dem Großereignis eher unaufgeregt entgegen. Selbst die Fanclique, die sich ein bißchen Stimmung angetrunken hatte, traute sich nicht, in der Fußgängerzone laut loszugrölen. So was macht man hier nicht.

In ein paar Wochen schon wird das anders sein, wenn die Anhänger des FC Bayern und all der anderen großen Klubs über die Idylle kommen. Für die Führungsriege des SSV Ulm kein Grund zur Panik. „Wir werden genauso kühlen Kopf bewahren wie im letzten Jahr“, versichert Steer. Natürlich werde es „punktuelle Verstärkungen“ geben, sagt Andermatt, aber die Devise bleibt dieselbe: Step by step. Fix ist bislang lediglich die Verpflichtung des Uerdingers Uwe Grauer; angeblich besteht Interesse an dem Karlsruher Rainer Scharinger und Fortuna Kölns Stürmer Rainer Schütterle. Zdrilic wechselt zu 1860 München.

Angst vorm Abstieg hat in Ulm keiner. Andermatt: „Wir haben niemandem etwas zu beweisen.“ Vorgänger Ralf Rangnick, der erstmals seit seinem Rücktritt wieder im Stadion war und zahllose Hände zu schütteln hatte, sieht die Ausgangsposition ähnlich: „Es wird leichter sein, die erste Liga zu halten, als in der zweiten noch mal vorne mitzuspielen. Das sind alles noch junge Spieler, da gibt's noch beachtliche Steigerungsraten.“ Die Meisterschale war im Donaustadion auch schon zu sehen. Bislang allerdings nur in Plastik.