Im Busch mit Ousmane

Hühner, Ziegen, Termitenhügel gegen das bedrohliche Gewitter im Gedärm. Zur Behandlung bei einem westafrikanischen Fetischheiler. Seine Praxis ist eine Müllhalde, seine Methode undurchschaubar, der Erfolg der Behandlung ungewiß  ■ Von Andreas Kirchgäßner

Mühsam drehe ich mich auf meinem Lager um. Die Gliederschmerzen sind wieder stärker geworden.Zwei staubige Füße treten in mein Blickfeld. Die Hose wird von einer Kordel gehalten, die um den bloßen, dürren Bauch geschlungen und vorne verknotet ist. Kurz darüber beginnt ein violettes Hemd. Auf der Brust steht: „Lacoste“. Der Träger dieses Hemdes ist von kleinem Wuchs, aber das Hemd hat die Maße eines Heranwachsenden. In den kurzen Ärmelröhren stecken dünne Arme. Die eine Hand hängt entspannt, während die andere zu einem flachen Kelch geformt sich auf mich zubewegt. Eine Geruchswolke von würzigen Pflanzen geht über mein Lager. Er hält mir seinen Handkelch unter die Nase. Ein Pulver von der Farbe gebrannten Sienas. Seine Konsistenz so fein, daß es mir in der Nase kitzelt. Ich suche das Gesicht des Mannes. Der schmale Kopf sitzt auf einem erstaunlich langen, säulenartigen Hals. Mund und Nase stehen breit, ein Zug Ironie darin. Unmöglich, sein Alter auch nur zu schätzen. Er nimmt mit der anderen, der entspannten Hand, deren Äderung bis in die Fingerspitzen einer Landkarte gleicht, nimmt mit zwei seiner langen Finger soviel Pulver aus der einen Hand, wie er mit den Fingerspitzen greifen kann und legt es mir auf die Zunge. Ein metallischer Geschmack breitet sich aus. Dann, in Sekundenschnelle, zieht sich der Innenraum meines Mundes zusammen, trocknet der Speichel. Ich würge, weil ich nicht mehr schlucken kann. Versuche, das Pulver mit der Zungenspitze zwischen die Lippen zu transportieren, um es wieder auszuspeien. Es klebt brennend an meinen Lippen. Mit erstaunlich flinken Bewegungen gießt der Mann Wasser in einen Becher und setzt ihn mir an den entflammten Mund. Ich stürze die Feuchtigkeit gierig hinunter.

Ich habe Magenkrämpfe. Schließlich bündle ich die Kräfte, erkläre den Moment für unaufschiebbar und rolle mich vom Lager. Rappele mich behutsam auf die Knie verliere das Gleichgewicht, strauchle. Wie zwei Säulen erheben sich seine Beine direkt vor mir. „Du kommst mit mir!“ Die Entschiedenheit in seiner Stimme verbietet jede Rückfrage, zumal weitere Helfer den Raum betreten. Während man mir aufhilft, lalle ich: „Hunger!“ Man übersetzt dem Mann mein Anliegen. „Kein Problem“, sagt er. Und ich suche, was mich an diesem „kein Problem“ stört, gewaltig stört, nämlich sein häufiger, geradezu inflationärer Gebrauch in Afrika, und zwar immer dann, wenn es wirklich Schwierigkeiten gibt.

Während ich also überlege, wie ich mich in meinem Zustand aus den Klauen eines Mannes befreien kann, der „kein Problem“ sieht, verfrachten sie mich bereits hinten in ein Taxi. Eine Fahrt heraus aus der Stadt und quer durch den Busch beginnt. „Ich heiße übrigens Ousmane“, sagt der Mann. Ich aber denke, von den Erschütterungen des Fahrzeugs malträtiert, nur an das Reißen und Zerren in meinem Darm, bis ich nicht mehr anders kann, als „Halt!“ zu brüllen und in den Busch zu stürzen, um mich dort zu entleeren.

Nach einer Tour durch die Wildnis sind wir endlich da. Ich werfe einen Blick auf den Hof, den Ousmane mir als seine „Praxis“ angekündigt hat. Blaßocker der gestampfte Lehmboden. Smaragdene Eidechsen huschen darüber. Eine scheint mich zu betrachten. Hält inne, nickt mir zu und flitzt weiter. In der Mitte des Platzes ein kleiner Baobab, an dessen Fuß eine Tonschale steht, gefüllt mit schillerndem Brei, der mit Federn garniert ist. Darüber lebt die Luft von einer Fliegenschwade. Allerhand Viehzeug. Hühner, Truthähne, Ziegen und ein magersüchtiger Hund laufen aufgescheucht hin und her. Am Rande des Hofes die Feuerstelle, dahinter eine Lehmhütte, deren Eingang bleiche Tierschädel zieren. Aus der Hütte tritt uns ein junger Mann entgegen. Ein Lachen springt aus seinem Gesicht. Die Wangen mit Schönheitsnarben verziert und die Augenränder schwarz geschminkt.

Der Mann geht schnurstracks auf Ousmane zu: „Hast du's?“ Er berührt mit den Lippen beinahe Ousmanes Ohr. „Mein Fulani“, erklärt Ousmane und grinst. Der Fulani wird unruhig. Erst Ousmanes großmännischer Griff in die Brusttasche läßt ihn erleichtert aufatmen. Ousmane fingert zwei Zigaretten hervor. Eine gibt er dem Fulani, eine steckt er sich selbst in den Mund, und der Fulani läuft und holt einen glühenden Scheit. Zunächst gibt er Ousmane Feuer, um dann selbst den heißen Rauch einzusaugen. Beide stehen eine Weile, ganz eingenommen vom Inhalieren.

Dann erzählt Ousmane, daß der Fulani stets vor dem Mittag eineinhalb Stunden auf seinem, Ousmanes Fahrrad durch den Busch zum nächsten Händler fahre, um von Ousmanes Geld zwei Zigaretten zu erstehen. Daß sie beide dann über Mittag hier lägen und die beiden Zigaretten rauchten.Ursprünglich sei der Fulani nur als Wanderarbeiter hierher gekommen, nur für die Dauer einer Ernte, für die er ein Huhn und warmes Essen erhalten habe. Für diese Bezahlung arbeite er nun bereits seit Jahren bei ihm.

Ousmane winkt mich in seine Hütte. Der Raum ist eine Müllhalde. Alles liegt voll. Plastiktüten, Gläser, Flaschen. Erdhäufchen und Sand. Drahtreste, Schnüre, Stoffetzen. An den Dachsparren hängen Fetische und Ketten. Ich sehe stoffumwickelte Haarbüsche, von schwarzem Blut verklebte Knochen und Hörner, Schlangenhäute und Vogelfedern. Neben getrockneten Eidechsen hängt auch ein Affenschädel. Ousmane zeigtmir einen Metallring mit langem Griff, und fordert mich auf, ihm ein Stück Stoff von mir zu geben. Da ich über nichts anderes verfüge, trenne ich einen Streifen von meinem Hemd ab. Er umwickelt den Ring damit.

Nachdem die Mittagsglut über die Hütte hinweggegangen ist, so heiß, daß es selbst den Vögeln die Stimme verschlug, wende ich mich, von Magenkrämpfen geschüttelt, an Ousmane, um zu erfahren, wie er mir zu helfen gedenkt. „Doucement, doucement!“ vertröstet er mich. In der anhaltend infernalen Hitze versinke ich in eine Art Koma.

Am nächsten Morgen führt Ousmane mich in den Busch. Es gelingt mir kaum, mit ihm Schritt zu halten. Immer wieder stolpere ich, weil meine Beine mir nicht gehorchen. Dann stehen wir an einem Termitenhaufen. Ousmane holt „meinen“ Ring hervor und legt ihn in den Haufen.

Schließlich eröffnet er mir, er müsse den „Erdherren“ zunächst gütig stimmen. Dazu bedürfe es einiger Krüge Hirsebier, die ich zu besorgen hätte. Außerdem brauche er fünf Hühner, einen noch nicht geschlechtsreifen Ziegenbock, Salzsteine, Schildkrötenpanzer.

Ich gebe zu verstehen, daß meine Kraft nicht reicht, um bis in die Stadt zurückzufahren und all diese Medizin zu besorgen. Ousmane schickt seinen Fulani mit dem Fahrrad und meinem Geld los, um alles zu besorgen.

Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, daß es zwei Tage dauern wird, bis der Fulani schlingernd zurückkehrt, reichlich betrunken und mit einer Schar von Helfern. Abgerissene Gestalten, die ihm die erworbenen Utensilien hinterher tragen. Auch sie wanken beachtlich. Kichernd verschwinden sie wieder im Busch. Zurück bleiben die Bündel, von denen einige sich am Boden winden. Jämmerliche Laute dringen aus ihnen hervor. Ich beginne sofort, die gequälten Kreaturen zu befreien.

Kaum habe ich das Böckchen aber auf seine wackligen Beine gestellt, schneidet Ousmane ihm ohne Vorwarnung oder Zeremonie die Kehle durch. Ein saugender Ton fährt aus der durchtrennten Luftröhre. Zuckend bricht das Tier in die Knie. Das Blut läuft zu einer Pfütze auf dem Lehmboden zusammen. Ousmane ruft den betrunkenen Fulani herbei und läßt ihn das Feuer entfachen.

Dann bindet er dem Bock mit einer Schlinge die Luftröhre ab, stößt ihm am Hinterlauf ein Schilfrohr durchs Fell und beginnt ihn aufzublasen. Bald gleicht das Tier einem Ballon. Mit dem Messer trennt er vom Bauch her das Fell vom Körper,trennt den Kopf vom Rumpf und hängt ihn mit Gemurmel in den Baobab. „Für die Geister“, erklärt er, während er sich schon wieder dem Bock zuwendet, ihn aufschneidet, Herz und Innereien heraustrennt und das Fleisch in Stücke zerteilt. Kaum eine halbe Stunde nach der Rückkehr des Fulani brutzeln kärgliche Reste des Tiers über dem Feuer.

„Jetzt die Hühner“, erklärt Ousmane, und ich befürchte ein neuerliches Massaker. Zu meiner Überraschung entfernt er ihnen jedoch lediglich die Fußfesseln und verscheucht sie. Aufgeregt flattern sie zu ihren Artgenossen. Von Zeit zu Zeit meine ich, eines meiner Opferhühner wiederzuerkennen. Ich frage Ousmane nach der Bewandtnis und erfahre, daß die Hühner Indikatoren für den Erfolg meiner Behandlung sein werden. Verirren sie sich im Busch oder sterben an einer Krankheit, so werden seine Worte nicht erhört, die Opfer verschmäht. Dann kann die Behandlung nur fehlschlagen. Bleiben sie jedoch am Hof, so erhören die Ahnen sein Wort und nehmen die Opfer an.

Ich merke,wie ich immer lethargischer werde. Eine Krankheit, die – neben Durchfall, Erbrechen und Fieber – in eben dieser Antriebslosigkeit besteht, einer schier unüberwindlichen, bleiernen Müdigkeit.

„Tssst!“ Ousmane zischelt und macht mit dem Kopf eine kleine Bewegung zum Busch hin. Schwerfällig erhebe ich mich und folge ihm.

Der Fulani, soeben im Erdnußfeld beschäftigt, springt auf und rennt uns hinterher.

„Was zahlst du?“ fragt mich Ousmane unvermittelt. „Äh, wieviel soll es kosten?“

„Zehntausend.“

„Oh, das ist zu viel!“

„O. k. Gib sechstausend.“

An Büschen und Bäumen vorbei, die er bespricht, führt er uns zu dem Termitenhügel, in dem der Metallring liegt. Bedächtig und unter Gemurmel holt er den Ring heraus. Ich erschrecke, denn den Stoff meines Hemdes haben die Tierchen nahezu vollständig verspeist. Ousmane aber hält das für ein gutes Omen. Vergnügt mit dem Fulani plaudernd, kehrt er an den Hof zurück. Dort suche ich meine fünf Hühner. Ich entdecke kein einziges mehr.

Eine Geruchswolke von würzigen Pflanzen geht über mein Lager. Ein Pulver kitzelt mich in der Nase

Ich werde immer lethargischer. Eine unüberwindliche, bleierne Müdigkeit kriecht mir in die Knochen