Flexibler Widerstand? „Aggression!“

■  Eskaliert der neue Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan zum Krieg – gar zum Atomkrieg? Die taz versammelte Pakistans Ex-Außenminister Tanvir Ahmad Khan und Indiens Ex-Außenstaatssekretär Muchkund Dubey zum Streitgespräch

Der Inder Muchkund Dubey und der Pakistani Tanvir Ahmad Khan kennen sich seit den 70er Jahren, als sie jeweils für ihr Land Botschafter in Bangladesch waren. 1990/91 standen beide an der Spitze ihrer Außenministerien – Dubey als Staatsminister und Khan als Minister. Heute leitet Dubey den „Rat für Soziale Entwicklung“ in Delhi und Khan das „Institut für Strategische Studien“ in Islamabad.

taz: Warum ist der Kaschmir-Konflikt jetzt eskaliert?

Muchkund Dubey: In einem sorgfältig geplanten Schritt hat Pakistan eine Gruppe von Leuten in die Lage versetzt, Land zu besetzen, das bis dahin unter indischer Kontrolle stand.

Tanvir Ahmad Khan: In Kaschmir ist die Lage seit zehn Jahren angespannt. Wie bei allen Konflikten, in denen sich die Bevölkerung gegen fremde Besatzer erhebt, hat die Auseinandersetzung mal eine niedrige und mal eine hohe Intensität. Der Konflikt ist also Teil eines Musters. Die jetzige Eskalation kommt durch Operationen der Mudschaheddin in einem für die indische Regierung extrem sensiblen Gebiet: auf 5.000 Meter Höhe über einer Straße, die Srinagar mit Ladakh und dem seit 1948 zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Siachen-Gletscher verbindet.

Hat der gegenwärtige Konflikt eine neue Qualität?

Khan: Ja und nein. Die Guerillakämpfer operieren nach eigenen Regeln. Statt eines Stellungskrieges bevorzugen sie ein sich ständig wandelndes Schlachtfeld, auf dem sie den Gegner bei möglichst geringen eigenen Verlusten treffen können. Das ist keine neue Qualität. Indien hat in Kaschmir bis zu 700.000 Soldaten und Sicherheitskräfte stationiert. Auch deshalb muß der kaschmirische Widerstand flexibel sein und sich ein verwundbares, ungeschütztes Gebiet suchen. Die neue Qualität ist, daß der Widerstand nicht wie früher zuschlägt und dann schnell verschwindet, sondern jetzt Höhen eingenommen hat, von denen man Gebiete und strategische Verkehrsverbindungen kontrollieren kann. Waren frühere Scharmützel an der Grenze meist der Versuch, die jeweilige Stellung zu verbessern, so muß Indien die jetzige Situation als eine sehr große Bedrohung empfunden haben, weil es sehr früh die Luftwaffe einsetzte. Indien hat zwei Flugzeuge auf pakistanischem Gebiet verloren, ein Hubschrauber wurde innerhalb Indiens von den Mudschaheddin abgeschossen. Anfangs sprach Indien von 300 Mudschaheddin, später von 600. Zugleich wurde behauptet, schon ebenso viele getötet zu haben. Wenn das die Zahl der Gegner gewesen sein soll, ist die neue Qualität auch der indische Einsatz von mehr als einer Division für eine lokale Operation.

Dubey: Die neue Qualität besteht erstens darin, daß erstmalig der bewußte Versuch unternommen wurde, von jenseits der Waffenstillstandslinie indisches Territorium zu erobern. Das ist eine Aggression. Zweitens kämpfen dabei reguläre pakistanische Kräfte zusammen mit in Pakistan ausgebildeten kaschmirischen Unabhängigkeitskämpfern. Drittens sind auch terroristische und fundamentalistische Kräfte aus Pakistan und Afghanistan involviert.

Als Indiens Premierminister Atal Behari Vajpayee im Februar erstmals nach Pakistan reiste und in Lahore seinen Amtskollegen Nawaz Sharif traf, zeichnete sich zwischen beiden Staaten eine Entspannung ab, die als „Geist von Lahore“ bezeichnet wurde. Ist dieser Geist tot?

Dubey: Er ist momentan ausgesetzt. Solange sich die Situation nicht verbessert und der Status quo ante nicht wiederhergestellt wird, hat Entspannung keine Chance.

Khan: Über den Geist von Lahore gab es immer zwei Meinungen. Ich habe damals die Einladung zur Live-Kommentierung des Treffens im pakistanischen Fernsehen angenommen, weil ich es für einen möglichen Neuanfang hielt. Die andere Position ist, daß das Treffen immer überbewertet wurde, weil Indien nie ernsthaft zu einer Diskussion der Kernprobleme wie Kaschmir bereit war, die Fortschritte in anderen Bereichen verhindern. Dabei hat Pakistan sogar Indiens Sicht, daß die Konflikte nur bilateral gelöst werden müssen, akzeptiert. Da beide Nuklearstaaten sind, können sie dem Imperativ zur Zusammenarbeit nicht entkommen. Für den „Geist von Lahore“ hat es einen Rückschlag gegeben, aber er ist nicht tot. Denn er darf nicht sterben.

Die Anzeichen für Kriegsvorbereitungen mehren sich auf beiden Seiten. Wie wahrscheinlich ist jetzt ein vierter Krieg zwischen Indien und Pakistan?

Dubey: Die momentane Situation enthält die Zutaten für eine Ausweitung des Konflikts. Die Frage ist, welche Strategie Indien wählt, um die Kontrolle über sein Territorium zurückzugewinnen. Das muß aber nicht automatisch zu umfassendem Krieg führen. Es bedarf jetzt der Phantasie der Führungen beider Seiten, um den vollen Krieg zu verhindern. Alle hoffen, daß sich in Pakistan der gesunde Menschenverstand durchsetzt. Im Gegensatz zu dem, was alle Strategen sagen, könnte auch Indien vielleicht zu dem Ergebnis kommen, daß es große Opfer bringen muß. Obwohl es noch nicht jeden Zentimeter seines Territoriums befreit hat, könnte es doch mit einer weitgehenden Kontrolle zufrieden sein. Ich würde diese beiden Alternativen, die jeweils stark von den Handlungen der anderen Seite abhängen, allem anderen vorziehen. Denn das wäre für beide viel kostspieliger.

Khan: Momentan sehe ich nicht die Gefahr eines vollen Krieges. Ich sehe aber Elemente, die außer Kontrolle geraten können. Ich hoffe noch, daß Indien und Pakistan das Problem zur gegenseitigen Zufriedenheit lösen können, solange der Konflikt räumlich begrenzt ist. Es steht für ganz Südasien so viel auf dem Spiel.

Indien und Pakistan sind Nuklearmächte. Droht ein Atomkrieg?

Dubey: Persönlich würde ich das ausschließen und beide Staaten auffordern, öffentlich zu erklären, daß sie wegen Kaschmir niemals Atomwaffen einsetzen. Schon der Gedanke daran wäre schrecklich und gefährlich. Indiens Regierung hat bereits gesagt, daß sie keinen Grund sieht, warum sie zu Atomwaffen greifen sollte.

Khan: Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen ist gegenwärtig sehr unwahrscheinlich. Die Zerstörungen wären unkalkulierbar. Indien und Pakistan sehen ihre Atomwaffen grundsätzlich als Mittel zur Abschreckung. Wenn man vom Ungleichgewicht bei den konventionellen Waffen ausgeht –Indien ist viel größer und stärker als Pakistan – könnte Pakistan die Atomwaffen auch als letzte Rettung sehen. Gegenwärtig schließe ich aber einen Nuklearschlag aus. Ich habe nie die Sichtweise akzeptiert, daß Indien und Pakistan im Umgang mit Atomwaffen unreifer sind als andere Staaten. Selbst heute ist angesichts der sich seit Wochen hinziehenden Krise trotz der Eskalation auch eine Zurückhaltung festzustellen. Ich bin optimistisch, daß sehr bald eine echte Deeskalation beginnt.

Dubey: Die Atomwaffen sind keine letzte Rettung, weil sie auch selbstzerstörerisch sind. Die einzige Art, Atomwaffen zu handhaben, ist, sie niemals zu benutzen.

Khan: Pakistan hat bisher keine Nukleardoktrin formuliert. Die Regierung hat nie von Atomwaffen als letzter Rettung gesprochen, aber es gibt Kreise, die das tun. Es gibt traumatische Erinnerungen. 90 Prozent der Pakistani glauben, daß Ostpakistan [das heutige Bangladesch, d. Red.] durch eine indische Militärintervention abgespalten wurde. Im nationalen Gedächtnis hat sich deshalb die Meinung festgesetzt, keinesfalls wieder einen Zentimeter Boden an Indien verlieren zu wollen, was auch immer passiert. Diese Einstellung meine ich, wenn Atomwaffen als letzte Rettung gesehen werden.

Indien verlangt von Pakistan den Rückzug der Mudschaheddin von indischem Territorium. Wollte Pakistans Premier Sharif dem nachkommen, hätte er überhaupt die Macht dazu?

Khan: Die Mudschaheddin sind Aufständische, die mit dem infiziert sind, was sie als Freiheitskampf bezeichnen. In den vergangenen zehn Jahren gab es im Kaschmir-Konflikt auf beiden Seiten eine Degeneration. Indien schickte immer mehr Truppen, und immer mehr Menschenrechtsverletzungen wurden berichtet. Es gab zunehmende Angriffe der Mudschaheddin nicht nur auf militärische Ziele. Die Frage ist, ob überhaupt noch eine Regierung den Mudschaheddin etwas befehlen kann. Ich bin mir da nicht sicher. Indien und Pakistan können gemeinsam eine Lösung finden, die zur Entspannung beiträgt.

Dubey: Pakistans Regierung hat die Möglichkeit, den Konflikt sehr schnell zu beenden. Sie muß einfach nur den Mudschaheddin den Nachschub abschneiden, so daß diese erledigt sind oder sich zurückziehen müssen. Mehr muß Pakistans Regierung gar nicht machen. Die Versorgung kommt direkt von der pakistanischen Armee, und deren Soldaten kämpfen auf indischem Boden. Es ist also wirklich an Pakistans Regierung, den Konflikt zu beenden. Darüber hinaus läßt sich noch sagen, daß es in den letzten zwei Jahren in Kaschmir einen qualitativen Wandel mit Wahlen und der Bildung einer eigenen Regierung gegeben hat. Die Menschen sind des Aufstands überdrüssig, das Leben normalisiert sich. Der Vorwurf an Indien, in Kaschmir die Menschenrechte zu verletzen, scheint heute nicht mehr zuzutreffen. Pakistans Regierung muß entscheiden, ob sie auf dem bisherigen Weg ihr Ziel erreicht. Zieht sie die richtigen Schlüsse, kann der Konflikt sofort deeskaliert werden.

Interview: Sven Hansen