Das Den Haager Tribunal untersucht Massengräber

■ Forensische Teams sichern die ersten Beweise für eine spätere Anklageerhebung

Die ersten von rund 100 forensischen Experten des Haager Kriegsverbrechertribunals sind gestern im Kosovo eingetroffen. Ihre erste Aufgabe ist es, Beweise zu sammeln, die an der Oberfläche liegen. Das sind etwa Patronenhülsen und Kleidungsstücke, aber auch menschliche Überreste. Zur Arbeit der Experten gehört das Fotografieren und Kartographieren der Grabstätten. „Wir müssen jene Beweise sichern, die ansonsten schnell verlorengehen könnten“, sagt der stellvertretende Staatsanwalt des Tribunals, George Blewitt.

„Die Exhumierung der Massengräber kann bis zum nächsten Jahr warten“, so Blewitt, denn diese Beweise würden nicht verlorengehen. Sobald die Massengräber durch die KFOR-Truppen von Minen und Sprengfallen geräumt und abgezäunt sind, können die Experten des Tribunals mit ihrer Untersuchung beginnen. Sie stehen vor der größten Herausforderung seit Einrichtung des Tribunals. Im Gegensatz zu Bosnien, wo die Gräber oft erst Jahre nach der Tat untersucht werden konnten, sind die Massaker im Kosovo erst in jüngster Zeit verübt worden.

Dies gibt den Untersuchungsteams eine einmalige Gelegenheit, Beweise gegen mögliche Täter zu sammeln. Allerdings müssen sie schnell handeln. Denn es gilt, so viele Grabstätten wie möglich zu sichern, bevor die Flüchtlinge zurückkehren und Beweise zerstören, weil sie ihre Angehörigen exhumieren und angemessen begraben wollen. Auch Kamerateams und Journalisten, die vor den Experten an den Stätten der Massengräber auftauchen, könnten Beweise zerstören. „Außerdem ermöglicht es Angeklagten, später zu sagen, die Beweise seien von den Medien, der UÇK oder sonstwem dort hingeschafft worden“, sagt George Blewitt.

Nach Angaben des britischen Außenministeriums sind mehr als 10.000 Kosovo-Albaner in rund 100 Massengräbern verscharrt worden. Diese vorläufigen Zahlen beruhen auf Angaben von Flüchtlingen und Einwohnern vor Ort. Die tatsächliche Zahl könnte noch viel höher liegen. Eine beachtliche Hilfe in der Ortung von mutmaßlichen Massengräbern stellen Satellitenfotos oder Mitschnitte von abgehörten Gesprächen dar, die dem Tribunal von militärischen Stellen der Nato überlassen wurden. Diese spielten schon bei der Anklageerhebung gegen den jugoslawischen Präsidenten Miloevic eine wichtige Rolle.

In der provisorischen Polizeistation von Pritina konnten KFOR-Truppen Mitte dieser Woche sogar Kisten mit Dokumenten sichern, die auf eine Befehlshierarchie deuten, die bis nach Belgrad führt. In dem früheren Studentenwohnheim wurden nach Angaben des Guardian Hunderte von Festgenommenen verhört und gefoltert. Werkzeuge wie Schlagringe und Drahtschlingen lagen noch in den Räumen, als die britische Armee diese von der Polizei des serbischen Innenministeriums übernahm. Selbst Fotografien der Opfer wurden gefunden. Anwohner berichteten nach Angaben der Zeitung, furchtbare Schreie von Inhaftierten gehört zu haben. Obwohl ein Teil der Papiere verbrannt worden war, um Beweise zu beseitigen, sind die Experten sicher, mit Hilfe der modernen forensischen Methoden genügend Beweise rekonstruieren zu können. „Wir glauben, alle diese Dokumente werden uns helfen, die Anklage gegen Miloevic und seine Führungsschicht zu untermauern“, sagt der Pressesprecher des Tribunals, Paul Risley. Von der Beweissicherung bis zur Anklageerhebung ist es noch ein weiter Weg. Aber die Arbeit der forensischen Experten schafft die grundlegende Voraussetzung, um die kleinen und großen Täter überhaupt vor dem Kriegsverbrechertribunal zur Anklage bringen zu können, auch wenn diese möglicherweise erst Jahre später erfolgen wird. gb