Bloß nicht grübeln!

■ Mit „Quidam“ auf Europatournee: Der kanadische Cirque du Soleil zeigt seine neunte Produktion bei der Deutschlandhalle

Zirkus polarisiert. Die einenschwärmen, dort könne man sich „die Fähigkeit zum Staunen bewahren“ und „an das Wunderbare glauben“; die anderen halten es eher mit Hildegard Knef: „Als ich zwölf war, nahm man mich zum Zirkus. Ich sah Tiger durch Reifen springen, Menschen, die an Seilen hingen. Und sie klatschten wie besessen. Doch was dachte ich indessen? Wenn das alles ist!“

Um die Krise des traditionellen Zirkus wissen natürlich auch die Macher des Cirque du Soleil. Deshalb verzichten sie konsequent auf Tiger und Sägespäne. Statt dessen ummänteln sie ihren Zirkus mit einer Rahmenhandlung, die es gestattet, schnelle szenische Schwenks vorzunehmen. Nur keine Hänger! Die Geschichte von „Quidam“, dem neunten Programm des weltweit mit mehreren Kompanien operierenden kanadischen Unternehmens, ist freilich rasch erzählt. Ein kleines Mädchen – für das unübersehbar Mylène Démongeot, die Zazie aus Louis Malles Film, Pate stand – langweilt sich bei seinen Eltern zu Tode. Das Kind will die elterliche Wohnung verlassen, hinter der Wohnungstür steht aber schon ein Riese ohne Kopf. Von dem bekommt Zazie einen bowlerhat, der natürlich verzaubert ist. Denn kaum hat sie ihn aufgesetzt, bricht – hui – ein wilder Tingeltangel aus, und die Show beginnt.

Die akrobatischen Darbietungen des Cirque du Soleil sind fast ausnahmslos perfekt choreographiert und makellos umgesetzt. Überraschungen oder gar Brüche aber erwarten den Zuschauer nicht. Die Asiatinnen mit ihren Diabolokreiseln sind winzig und herzig, der polternde Oberclown kommt aus Italien (oder er tut wenigstens so), und die menschlichen Pyramiden türmen sich wie im russischen Staatszirkus.

Da freut man sich schon, wenn etwa eine ranke, schlanke, aber verblüffend große Frau schlangenhafte Turnübungen absolviert oder wenn der dritte Clown (der, dem nie etwas gelingen will) plötzlich mit einem Stück vom alten Manegenrand erscheint, das vor Staub nur so qualmt. Aha, ein poetisches Bild für den Zustand des Traditionszirkus! Aber nein, schon schleppt der Clown ein neues Requisit an, einen Stuhl, und der ist genauso staubig. Andere Bilder sind ähnlich sinnentleert: etwa wenn zu der beeindruckenden Zeitlupenakrobatik eines fast nackten Mannes und einer ähnlich spärlich bekleideten Dame plötzlich eine glatzköpfige Schwangere unter der Zirkuskuppel kreist. Da hilft kein Grübeln, nur noch Wundern.

Im Schlußbild übigens wird doch noch alles gut für die kleine Zazie. Plötzlich erwachen die langweiligen Eltern aus ihrer Starre, herzen und drücken ihr liebes Kind, und zu dritt läuft man nun staunend und lachend durch das bunte Treiben der Zirkusleute. Und dazu erscheint am Firmament ein gigantischer blutroter Vorhang, der wohl den alten Zirkuseingang darstellen soll. Allerdings ist er so pedantisch in Falten gelegt, daß dem Dekorateur von Ado-Gardinen der Atem stocken müßte. Da fehlt nur noch der Einmarsch eines Mormonenchors mit Formularen zum Konvertieren. Reinhard Krause ‚/B‘Cirque du Soleil im Grand Chapiteau an der Deutschlandhalle, Di-Do 20 Uhr, Fr 20. 30 Uhr, Sa/So 16 und 20 Uhr, Karten 49 bis 89 Mark.