Überstrapaziertes Symbol

betr.: „Das letzte Manöver in Mutlangen“, taz vom 16. 6. 99

Mutlangen zum Letzten: Galt der Ort bei Schwäbisch-Gmünd vor Jahren noch als Symbol für Gewaltfreiheit und Widerstand gegen die Nato-Nachrüstung, so mutiert er in neuerer Zeit zum Synonym für einen unpolitischen, ja bigotten Pazifismus (in diesem Sinn wurde er bei C. Semler, M. Rutschky und D. Diederichsen in Artikeln der taz dieses Jahres gebraucht). Die heutige Abwertung hat ihre Ursache in der Überstrapazierung des Symbols, dessen moralisch-politischer Kern hinter moralisierender Traditionspflege verschwand.

Anstatt mit den veränderten Themen und sozialen Bezügen mitzulernen, wurde Mutlangen als Modell für jede Form gesellschaftlicher Konfliktaustragung bemüht und damit in der Tat zum eher gefühligen Fetisch entpolitisiert. Bleibt das Pochen auf die richtige Erinnerung, denn die eigene Schlüsselerfahrung muß ja ihren Sinn gehabt haben. So werden Vergangenheit und Zukunft umgestülpt, und die alten Kämpfer treten auf als Leute, die das, was sie hinter sich haben, immer vor sich stellen müssen, und es gehört zu den Krankheiten der Friedensbewegung, immer auf eigene Erfahrungen und Identitäten abzustellen, statt die politischen Ereignisse zu analysieren. Dazu paßt das Auftreten des in Mutlangen zurückgebliebenen „Demo-Veterans“ Nick, der den Mutlanger Bürgern Vergeßlichkeit vorwirft. Sich selbst gibt der trotzige Mann indirekt das Zeugnis, im höchsten Maß integer zu sein, was schon damit bewiesen ist, daß er Arbeitsplätze schafft. Als Fahrradkurier allerdings 630-Mark-Jobs, ist da hinzuzufügen. [...] Rolf Hiemer, Tübingen