Späte Liebe namens Steffi

Die Tennisspielerin Stefanie Maria Graf hat viel gewonnen – doch erst in dieses Wimbledon-Turnier geht sie heute als Königin der deutschen Herzen. Ein Kardiogramm  ■   von Jan Feddersen

Die Zahlen sprechen ja für sich. Sie hat 22 Einzeltitel bei den großen Turnieren in Wimbledon, Paris, Flushing Meadow und Melbourne gewonnen. Bis auf die Australierin Margaret Court hat keine andere Tennisspielerin so lange die Szene dominiert und so viele ruhmreiche Siege erreicht, selbst die mittlerweile legendäre Martina Navratilova nicht.

Stefanie Maria Graf (30) hat sportlich viel mehr erreicht als Boris Becker, und es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob die Männer härtere Konkurrenten sind und deshalb „das Bobele“ (ja, so nannte man ihn früher) nur wenige Tage die Nummer eins war.

Steffi Graf war trotzdem keine Frau, keine Sportlerin, der die Herzen zuflogen, deren Finals man entgegenfieberte und deren Gegnerinnen (Hana Mandlikova, die Navratilova, Gabriela Sabatini, Monica Seles, Arantxa Sanchez-Vicario) man noch etwas Geduld wünschte, weil erst einmal Graf, Graf, Graf gewinnen sollte. Nein, so war das nicht, auch wenn uns die TV-Kommentatoren („Unsere Steffi – Weltklasse“) immer anderes glauben machen wollten.

Woran das liegt? War sie zu dominant, daß ihre seltenen Niederlagen sich eher wie Glücksfälle der Kontrahentinnen ausnahmen? Vielleicht. War sie zu schlicht gestrickt, weil ihr Tennis nie den Zug zum Genialischen aufwies, so wie das von Becker? Zu deutsch, weil sie kundgab, Schäferhunde zu mögen, wo doch jeder weiß, daß diese Hunderasse nur von astreinen Spießern gehalten wird? War sie allzusehr Tochter eines früheren Gebrauchtwagenhändlers, der sich in Gesellschaft der besseren Leute nicht zu benehmen wußte und das Preisgeld seiner Tochter immer in Plastiktüten mit sich herumtrug? Oder war sie zu glatt und manchmal allzu peinlich, wenn sie ihre mittelbiedere Modekollektion vorstellte und in einem Werbeclip für eine italienische Teigwarensorte „eine kochende Leidenschaft“ vorgaukelte?

Es war wohl eine Mischung aus allem. Irgendwie lechzte das Land nach Typen wie Becker – glamourös, weltgewandt und doch auch an Themen wie der Hafenstraße und dem Doppelpaß interessiert. Steffi Graf konnte da nur abfallen – ihr merkte man immer an, daß ihre Familie aus mickrigen Verhältnissen stammt, bei ihr war zu spüren, daß öffentlicher Wirbel ihr an die Nerven ging. Zumal sie nicht gerade den allermodernsten Frauentyp der Dekade verkörperte: ein Mädchen, das noch als Mittzwanzigerin an Vaters Rockzipfel hing.

Das ist seit Mitte Juni ganz anders – seit ihrem Sieg bei den French Open. Sie war längst nicht mehr unbesiegbar. Sie war verletzt, und ist es vielleicht bald wieder. Nun wirken ihre Auftritte wie die eines Boris Becker – man weiß nie, ob sie nicht schon in der ersten Runde ausscheidet. Sie ist jetzt in den Top ten die Älteste und sagt auch noch, daß sie sich selbst nichts mehr beweisen müsse.

Ihre erste Rivalin in Wimbledon ist Martina Hingis. Als Verliererin des Pariser Endspiels hat sie bei dieser späten Geburt eines Stars kräftig mitgemacht. War biestig. Und bockig. Schmiß ihren Schläger auf den Boden, stritt nutzlos mit Linienrichtern und schwitzte aus jeder Pore nur die eine Botschaft: Oh, wie gemein, daß sie mir nicht gleich den Sieg überläßt.

Eben diese vermutlich sogar wahrheitsnahe Dramaturgie hat hierzulande die Boulevardpresse, vor allem Bild, dargereicht. Hingis: ein verwöhntes Gör, nichts sonst. Hinterher befanden Spielerkolleginnen, die Schweizerin sei noch kein Champion, weil ein solcher auch verlieren können muß. Ob dieses Verdikt der Hingis nun wehtut oder nicht: Das ist insofern falsch, als niemand gerne verliert – eine Spielerin aber, die fünf und noch keine 22 Grand-Slam-Titel gewonnen hat, erst recht nicht. Graf hingegen will nicht mehr lange die Rolle der Grande Dame des Tennis spielen. Heute in Wimbledon aber schon noch, zum Auftakt gegen die Slowakin Ludmilla Cervanova, gegen Hingis potentiell erst im Finale.

Als die Navratilova 1988 in Wimbledon erstmals gegen Graf verlor, weinte sie – und manche mit ihr, weil die phänomenale Navratilova als Lesbe doch so lange gebraucht hat, um die Liebe des Publikums zu gewinnen. Später schenkte die US-Amerikanerin der Deutschen eine goldene Kette. Die meisten Spielerinnen wünschen, daß Graf, zumindest dieses Jahr, eine solche Geste erspart bleibt.