Pflugscharen zu Schwertern

„Ihr seid das Salz der Erde“ lautete das Motto des 28. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Stuttgart. Das nahm das Kirchenvolk wörtlich, feierte sich und rückte fast geschlossen ab vom Radikalpazifismus. Eine Reportage  ■   von Jan Feddersen (Text) und Joachim E. Röttgers (Fotos)

Die junge Frau schnippt mit den Fingern. „Ja, du hast eine Frage?“ Der Major erteilt ihr das Wort. „Wie ist das im Kosovo? Sind die Serben wirklich so schlimm?“ Der Mann von der Bundeswehr schnauft, als würde er gleich mit einer unangenehmen Wahrheit herausrücken. „Ja, so etwas Schlimmes habe ich noch nie gesehen.“ Dann berichtet er von den Flüchtlingen an der makedonischen Grenze, von den weinenden Frauen und Männern, von Kindern mit ernsten Gesichtern.

Da ist es sehr still in dieser Koje, in der Halle 9 des Messegeländes am Stuttgarter Killesberg, in der vielleicht fünfzig Menschen Platz finden und die doch nicht ausreicht für die vielen, die gern zugehört hätten. Die Militärseelsorger hatten eingeladen, um aus dem Kosovo zu berichten. Die Menschen, die ihnen und den anderen Bundeswehrmännern zuhören, sind stumm, als hörten sie das erste Mal von einer Welt, die sie nicht kennen. Ein Mann sagt: „Ich sehe das alles ein, daß man den Menschen helfen mußte. Aber hätte es nicht auch andere Mittel gegeben, um den Vertriebenen zu helfen?“ Da erwidert der von der Statur her kleine Major und guckt dabei die Fragenden mit leicht geneigtem Kopf an: „Ich kann Sie verstehen. Aber wir wußten auch nicht weiter.“ Das Wort Bomben fällt nicht.

Der Major sagt nicht viel während dieser einen Stunde, aber er müht sich sichtlich, seine „innere Zerrissenheit“ spüren zu lassen. Auf seltsame Weise scheinen die Bundeswehrleute ihren Auftritt auf diesem 28. Kirchentag zu genießen. Früher, 1981 in Hamburg beispielsweise, schlichen die deutschen Militärs auf dem evangelischen Treffen herum wie arme Sünder, die wenigstens ein bißchen zur Familie gehören wollten. Meist mußten sie sich gefallen lassen, ignoriert, gelegentlich auch beschimpft zu werden. Manche Soldaten liefen in Stuttgart sogar in ihren Kampfanzügen umher: Helden, als die sie sich schon immer fühlten und jetzt den verdienten Respekt gezollt bekommen.

Das miese Image der Bundeswehr hat sich schlagartig seit dem ersten Nato-Kriegstag auf dem Balkan geändert. Nicht zuletzt Rudolf Scharping hat davon profitiert. Am Donnerstag schlägt ihm auf einer großen Podiumsveranstaltung Beifall entgegen, als er von der Not spricht, etwas tun zu müssen, was eigentlich unmenschlich sei, nämlich Ziele zu bombardieren, Menschen zu töten, um viele andere Menschen zu retten. Hans Apel, vor ihm der letzte Sozialdemokrat auf der Hardthöhe, hatte 1981 nicht so gut abgeschnitten. Aber da ging es ja nicht um Menschenrechte, sondern um die Nato-Nachrüstung. Der Kirchentag war beseelt von seinem Credo „Frieden schaffen ohne Waffen“ und von dem Satz „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Apel, ein bekennender Christ, wurde damals für seine Erläuterungen zum Nachrüstungsbeschluß zunächst ausgebuht, schließlich mit Tomaten beworfen, stand er doch im Verdacht, aus Pflugscharen Schwerter machen zu wollen: ein Pharisäer, der nur christlich tut.

Scharping hingegen scheint sich auf dem Kirchentag an Liebe abzuholen, was ihm in der eigenen Partei sooft versagt blieb. Auf seiner Veranstaltung ist es bei vielen tausend Zuhörern still wie am Lagerfeuer, als er sagt: Miloevic sei ein „Diktator aus dem Mittelalter“. Der Sozialdemokrat hat sichtlich Lust daran, das Auditorium in das Alphabet der Realpolitik einzuweihen. Immer wieder wird er vom Applaus unterbrochen, vor allem als er seine Not schildert, ohne direkte UNO-Mandatierung eine Entscheidung für ein „militärisches Eingreifen“ getroffen zu haben. Viele der Zuhörer nicken, viele mehr klatschen. Friedbert Pflüger von der Union dankt ihm bei dieser Gelegenheit „für die Leistung in den vergangenen Wochen“. Beifall.

Nur wenige pfeifen, doch sie werden niedergezischt. Immerhin durften die Kritiker des Kosovo-Einsatzes der starken Truppe noch ihre Transparente im Saal aufhängen: „Dauerhafter Frieden läßt sich nicht militärisch erzwingen“ oder „Krieg ist ein Verbrechen“. Die Organisatoren des Kirchentags haben den Friedensgruppen, die keine Freunschaft schließen wollen mit Nato und Bundeswehr, dies noch erlaubt – und zugleich verboten, mit diesen Transparenten außerhalb der engen Halle 9 und dem Saal X, in dem Scharping auf dem Podium sitzt, auf dem Messegelände umherzuziehen.

In dieser Halle 9 spielt sich ein kleines kirchentagspolitisches Drama ab. Während Offiziere, StandortpfarrerInnen, Majore und Rekruten als Gesprächspartner begehrt sind wie nie, fristen die Stände der Friedensbewegung ein weitgehend desinteressierendes Dasein. Die „Kampagne gegen Rüstungsexporte“, die „Ökumenische Aktion Steuern zu Pflugscharen“ oder die Stuttgarter „Werkstatt für Pazifismus“ scheinen sich meist mit sich selbst zu beschäftigen. Das „Café Zivil“ der Wehrdienstverweigerer leidet unter Austrocknung. 1981 waren die Stände der Friedensbewegung noch Aktionszentren, dort waren Tips für Blockaden begehrt, da gab es immer Gespräche, die Mut machen gegen den „ganzen Militärwahnsinn“, wie es hieß.

Doch dieses Jahr ist es anders, auch wenn oberflächlich gesehen alles wie gewohnt scheint: Männer in Sandalen und Wollsocken, Frauen mit indianisch gefärbten T-Shirts, Posaunenchöre, fairer Kaffee, Pfadfinder in kurzen Lederhosen, Menschen mit dem Tuch der Kampagne für den Schuldenerlaß für die Dritte Welt. Modisch neu sind allenfalls die vielen Plateausohlen neben den Birkenstöckern.

In Halle 9 ist es längst fünf nach zwölf. An den Friedensständen laufen die Kirchentagsbesucher zwar vorbei, doch ihr behäbiges Gehen hat vermutlich mehr damit zu tun, daß eiliges Fortkommen bei den Menschenmassen nicht möglich ist. Die meisten Info-Schriften und Aufkleber bleiben liegen, dafür ist das Bundeswehrmaterial, vor allem die stark bebilderten Broschüren aus dem Verteidigungsministerium („Der Kosovo-Konflikt. Eine Dokumentation“) um so gefragter. Am Stand der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigung der Kriegsdienstgegner, früher eine der nobelsten Adressen des Kirchentags, herrscht derweil triste Stimmung. Klaus Pfisterer, Landessprecher der Organisation in Baden-Württemberg, sagt: „A bissle geknickt bin i scho.“ Und wie er sagt, spricht er wahr. Auch Achim Lankenau, Bundessprecher aus Bremen, wirkt wie nach einer schweren, für ihn kaum zu fassenden Niederlage: „Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen, so wie damals, 1976.“ Und kommt man bei ihnen auf die Grünen zu sprechen, werden beide melancholisch: „Das ist nicht mehr unsere Partei“, sagt der 45jährige Pfisterer, der sich „verraten“ fühlt von Fischer & Co. Und der 31jährige Lankenau meint: „Für die Regierungsbeteiligung wird alles weggewischt, für das wir mal angetreten waren.“ Wahre Christen: In ihren Augen alleingelassen, Schmuddelkinder, mit denen kein Staat zu machen ist. Kirchentag in Stuttgart, das hieß für sie: Keine einzige pazifistisch inspirierte Resolution erreichte bis Sonntag früh die nötige Unterschriftenzahl. Die zur Abschaffung der Bundeswehr unterzeichneten nur knapp 300.