„Mit den Eltern fängt es an“

■ Kinderärzte mit umweltmedizinscher Ausbildung fordern mehr Prävention und Forschung/ In den Großstädten leiden bereits 40 Prozent der Kinder unter Allergien

Schadstoffe in der Umwelt machen immer mehr Kinder krank. Schon länger schlagen Ärzte deshalb Alarm. Besonders auffällig ist die Zunahme von Asthma in den letzten 15 Jahren, aber auch neue Krankheitsbilder halten Mediziner auf Trab. Am vergangenen Wochenende ging in London erstmals eine europäische Konferenz zu Ende, bei der Nichtregierungsorganisationen aus den Bereichen Gesundheit und Umwelt mit VertreterInnen der entsprechenden Bundesministerien an einem Tisch saßen. Für den in Bremen ansässigen ökologischen Ärztebund war der hannoversche Kinderarzt Jürgen Bilger dabei. Er wertet das erste derartige Treffen im Vorfeld der 3. Europäischen Ministerkonferenz „Umwelt und Gesundheit“ als Erfolg – auch weil Kinderärzte in den Sachverständigengremien künftig mehr Gehör finden sollen.

taz: Herr Bilger, Sie sind Kinderarzt mit umweltmedizinischer Ausbildung. Wieviele Mediziner dieser Ausrichtung gibt es überhaupt?

Jürgen Bilger: Ich schätze 80 bis 100. Sicher nicht genug, denn die umweltmedizinischen Probleme nehmen zu. Wobei man sie eng fassen kann – toxikologisch, als Vergiftungserscheinung. Oder man faßt sie weit – und das muß man tun –, dann bezieht man die städtische Umwelt, Wohnen, Verkehr ein, und alles was auf Kinder negativen Einfluß haben kann.

Das klingt, als würden Ärzte im Interesse ihrer Klienten in die Politik einsteigen.

Das müssen wir auch, weil wir mit dem Ohr direkt am Patienten sind und bestimmte Symptome frühzeitig bemerken. Wir sind Gesundheits- und Umweltwächter, und in diesem Sinne auch politische Wächter.

Was beobachten Sie neuerdings dabei?

Sorgen machen uns die zunehmenden umweltbezogenen Erkrankungen bei Kindern. Daneben haben wir das Problem von immer mehr Allergien und insbesondere von Asthma bei Kindern, das sogenannte Inner-City-Asthma, das seit 15 Jahren eindeutig zunimmt. Mittlerweile wissen wir, daß das einen Umweltbezug haben muß, einfach weil es genetisch nicht so schnell zunehmen kann.

Was muß aus dieser Erkenntnis folgen?

Ein Forschungsprogramm, das fragt: Warum Asthma, warum hier Asthma, warum speziell bei Kindern? Und wenn man den Zusammenhang von Asthma und Ozon in der Luft belegen kann, der sich abzeichnet, brauchen wir eine neue Sommersmogverordnung.

Eine klare Aufforderung an Umweltminister Trittin.

Eher an Kanzler Schröder. Trittin hat es ja im Februar mit der 180 Mikrogramm-Grenze versucht, von der wir aber auch nicht überzeugt sind. Wir meinen, daß erst bei 120 Mikrogramm und darunter keine Gesundheitssorgen mehr bestehen.

Bei der Konferenz kamen auch neuere Krankheitsbilder wie Fehlbildungen und Fruchtbarkeitsstörungen zu Sprache. Was geschieht da?

Das ist ein Gebiet, wo wir intensive Forschung fordern. Wir wollen keine Panik machen, aber wir sehen hier Anlaß zur Besorgnis. Bestimmte organische Chlor-Kohlenwasserstoffe können als sogenannte Östrogenblocker in den Stoffwechsel eingelagert werden und bei Kindern zur Unfruchtbarkeit führen.

Woher kommen denn die Östrogene?

Vielfach aus Kunststoffen. Es gibt etwa 45 verschiedene Chlor-Kohlenwasserstoffe, die hormonelle Wirkung entfalten, weil sie Ähnlichkeit zu dem Geschlechtshormon Östrogen haben. Aber es gibt diese Östrogene durchaus auch in natürlichen Stoffen. Was wir aber mit „neuen Erkrankungen“ auch meinen, sind neurologische oder neuropsychologische Dysfunktionen, also Störungen und Erkrankungen des Stoffwechselsystems und der sogenannten kommunikativen Systeme. Diese drei, Hormon-, Immun-, und Nervensystem, kann man als Netzwerk ansehen. Wenn die gestört werden, gibt es diffuse Erkrankungen – die nicht dem entsprechen, was der Mediziner mal gelernt hat, etwa im Sinne von Streptokokken, das deutet klar auf Lungenentzündung hin.

Sind Ärzte auf sowas vorbereitet?

Nein, wir müssen dazulernen, umlernen und die Wahrnehmung schärfen – auch in der Ausbildung.

Sind Eltern eigentlich aufmerksam genug in dieser Hinsicht – oder eher überfordert?

Ich meine, wenn Eltern über etwas gestolpert sind, wofür sie keine Erklärung haben, dann ist das häufig ein Zeichen, das ernst genommen werden soll. Mit beunruhigten Eltern fängt es meist an, ein Beispiel ist Asthma, wovon wir vor 15 Jahren wenig wußten. Mittlerweile sind wir dabei, die Ursachen zu klären.

Da gibt es doch heute gute Therapien.

Auch im Bereich der Asthmamedikamente sind Nebenwirkungen nicht auszuschließen. Deswegen ist Prävention ja so wichtig: Ozonwerte senken, Wohnumfeldsanierungen machen. Eine Zahl nur aus der europäischen Untersuchung über Allergie-Prävalenz, die der Schwede Kjellmann durchgeführt hat: Er hat festgestellt, daß 50 Prozent der schwedischen Kinder von Allergien betroffen sind oder waren. In Deutschland haben wir diesen Stand noch nicht erreicht – aber in den Großstädten liegt die Allergiehäufigkeit bei Kindern oft schon um 40 Prozent. Ich meine, wenn es so viele erreicht hat, besteht dringender Handlungsbedarf.

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

Ganz gut. Gerade in östlichen Ländern ist man weniger gut ausgestattet. Dennoch müssen wir eine Vorreiterrolle spielen und dabei Akzente setzen: Wir müssen hier sagen, welche Probleme dort in zehn Jahren auftreten. Bei den Krebsregistern und bei der Fehlbildungsforschung bestehen in Deutschland außerdem große Lücken. Die Frage ist ja immer, wo gibt es Häufungen und also Risikogebiete – und warum.

Sie behaupten, Umweltkrankheiten bei Kindern würden „verniedlicht“. Was meinen Sie damit?

Oft werden diese Krankheiten als nicht relevant beiseite geschoben. Aber für mich ist es immer wieder eine schlimme Erfahrung zu sehen, wie Kinder marginalisiert werden – in der Umwelt, bei den Erkrankungen, in der Stadt, in der Politik ... Es gibt keine effektive Lobbypolitik für Kinder. Kein Wunder, wenn man weiß, daß von hundert Haushalten in den Großstädten nur noch 16 Kinder haben. Das wirkt auf die Politik und ist gefährlich, denn die Kinder sind unsere Zukunft. Sie müssen im Mittelpunkt unserer Wahrnehmung stehen. Fragen: Eva Rhode

Kontakt: Ökologischer Ärzte- bund Tel.: 0441-498 42 51