Zuwächse an Wunden und Narben

Blutige Reinigungsrituale zwischen Anmache und Therapiesitzung. Der Berliner Fotograf Andreas Fux hat sein Modell Nico bei dessen aufreibender Suche nach der eigenen Identität beobachtet  ■   Von Andreas Hergeth

„Ist das echt?“ wollen viele Ausstellungsbesucher wissen, die vor der „Weißen Serie“ stehen. Der junge Mann auf dem Foto trägt sein weißes Hemd offen, sonst ist er nackt. Aber da ist auch das viele Rot auf seinem Körper: Nico hat sich mit dem Skalpell in die Arme geschnitten, das Blut rinnt an ihm herab. Er leckt daran. Dann sitzt er einfach nur da. Die verletzten Arme vor sich haltend. Die Augen geschlossen, der Mund schmerzverzerrt.

Der Berliner Fotograf Andreas Fux hat sein Modell Nico über vier Jahre hinweg mit der Kamera begleitet. Auf der Suche nach ... Ja, wonach eigentlich? Im Falle Nicos handelt es sich um „symbolische Handlungen“, erklärt Fux, der Bilder seines Lieblingsmodells in der Kulturbrauerei zeigt. „Dabei ging es anfangs um Erotik, um Sexualität, nicht um Blut oder Narben.“ Aber schnell war klar, daß sein Gegenüber spielte – mit der Kamera und mit ihm selbst: „Wie eine einzige Anmache“, erinnert sich Fux. „Daß dann in dieser Nacht Blut fließen würde, hätte ich nicht gedacht. Es war wie eine Therapiesitzung.“

Blut, aufgeschnittene Haut, Reinigungsritual, Narben – die tieferliegenden Motivationen bleiben im verborgenen, das Modell selbst hüllt sich in Schweigen. Das läßt Raum für eigene Gedankenspiele: Alles dreht sich um innere und äußere Transformation, um Sehnsucht und Suche nach dem eigenen Ich. Körper und Seele tragen bei diesem Experiment blutige, narbige Spuren davon.

Andere Arbeiten der „Weißen Serie“ zeigen den Jüngling in ähnlichen Posen. Da ist die Reihe, für die sich Nico die Buchstaben „INRI“ auf seinen Bauch einritzen ließ. Das erste Bild zeigt ihn mit nach oben gebundenen Armen. Dann sind da die mit Stift aufgemalten Buchstaben. Auf dem dritten Foto erfolgt der erste Schnitt, gesetzt von einem Freund. Wieder fließt etliches Blut, und auch der Schmerz gehört zur Prozedur. Genauso wie die Lust. Und schließlich das Ergebnis, „INRI“ in bluttriefenden Lettern. Auf dem letzten Foto wird Nico von seinem Freund auf Händen getragen. Bilder, die vom Alleinsein erzählen.

Und an Heiligenbilder erinnern. Am deutlichsten wird das in einer Serie, die den 22jährigen in weißer Ganzkörperbemalung zeigt. Mal posiert Nico wie eine Diva auf Pelz, mal mit provozierender Geste, dann wieder sticht er sich mit einer Kanüle in die Lippe. Ein paar Tropfen Blut fließen. Und dann steht er mit geöffneten, nach vorn zeigenden Handflächen da. Wie ein Jesus aus der Jetztzeit, der dem Betrachter seine Wundmale zeigt.

Nur einmal gönnt Fux dem Besucher seiner Ausstellung einen beschaulichen Moment. Fünf Arbeiten entstanden während eines gemeinsamen Kalifornientrips. Nico steht in der Prärie einfach nur herum, blickt mit Sonnenbrille vor einer Hängebrücke in die Ferne oder sitzt im Cabriolet, den Kopf zurückgelehnt, selbstgewiß wie eine Diva. Oder schlicht wie ausruhend. Erschöpft von den schmerzvollen Experimenten auf der Suche nach der eigenen Identität.

Die übrigens keine schwule ist, wie vielleicht anzunehmen wäre. Der in der Szene bekannte schwule Fotograf, von dem das erste männliche DDR-Aktfoto im Magazin stammt, hat mit Nico und anderen heterosexuellen Männern, die er im Berliner Tattoostudio „Blut und Eisen“ kennengelernt hat, an seiner „Weißen Serie“ gearbeitet. Vor dem Shooting kochen Fotograf und Modell, reden über Gott und die Welt. „Eigentlich“, sagt der 35jährige, „standen die Fotos selbst gar nicht im Mittelpunkt, wichtiger war das Drumherum.“ Das macht die Arbeiten nicht planbar und deshalb so interessant: Man verfolgt die Ich-Werdung eines Menschen, sieht „Zuwächse“ an Tattoos, Narben, Wunden. Was aber wirklich dahintersteckt, bleibt im verborgenen.

Bis 27. Juni, Mi.–Fr. 16–20, Sa./So. 14–20 Uhr, Galerie im Pferdestall, Kulturbrauerei, Knaackstraße 97, Prenzlauer Berg