Wenn der Andere mal anders tanzt ...

... ist es mit der Toleranz schnell vorbei: Slavoj Zizeks Buch „Liebe deinen Nächsten? Nein, danke“  ■   Von Konrad Paul Liessmann

Der Slowene Slavoj Zizek gehört zu den profiliertesten Vertretern eines neuen Typs von Philosophen, der vor allem durch seine polyglotte Ubiquität auffällt. Die Kurzbiographie Zizeks verzeichnet keine Publikationen mehr, sondern hält fest, daß der Autor in den letzten Jahren an über 250 Symposien in nahezu allen Ländern dieser Erde teilgenommen hat. Solche Rasanz und Dynamik in der Bewegung kann auf das Denken nicht ohne Wirkung bleiben.

Ähnlich wie zwischen den Tagungsorten der Kontinente pendelt Zizek auch in seinem Schreiben flink zwischen unterschiedlichen philosophischen und psychoanalytischen Traditionssträngen, zeitkritischen Diagnosen, kultur- und medienkritischen Analysen, filmtheoretischen Einsprengseln und literarisch-hermeneutischen Übungen, um doch immer wieder zu präzisen Formulierungen, bedenkenswerten Einsichten und originellen Reflexionen zu finden.

Bestätigt wird diese virtuose Mixtur dadurch, daß sie Zizek, als wäre es eine verborgene Hommage an Theodor Adorno, den strengen Tempobezeichnungen musikalischer Sätze unterwirft. Was mit einem ironischen Giocoso, ma non troppo anhebt, sich über ein hartes Assai sostenuto, ein dissonantes Allegro di molto und ein melancholisches Adagio sostenuto fortsetzt, endet in einem zynisch-verspielten Allegretto. Das Thema aber, das sich diesen unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Stimmungen zu unterwerfen hat, ist ein Lieblingsmotiv postmoderner Spekulation: der Andere.

Der Fremde, der Andere, Objekt des Begehrens und Objekt des Hasses: daß Zizek dem christlichen Gebot der Nächstenliebe eine zynische Absage zu erteilen scheint, trifft zumindest die zeitgemäße Variante des Gebots, die Verpflichtung zur Solidarität in der multikulturellen Gesellschaft. Diese, so Zizek, degradiert den Anderen geradezu zu einer Figur, die nur solange toleriert wird, solange sie sich dem ästhetischen Konzept eines bunten Durch- und Miteinander unterwirft. Ist der Andere einmal wirklich anders, ist es mit der Toleranz schnell vorbei – und nicht zuletzt die Haltung des liberalen Westens zum Balkan ist, so Zizek, dafür ein bezeichnendes Indiz. Und auch in den Gewalttaten der Hooligans und Neonazis sieht Zizek keine „Wiederkehr des Verdrängten“ am Werk, sondern „das verborgene Antlitz der Toleranz selbst“, eine von der multikulturalistischen Toleranz selbst direkt hervorgebrachte Gewalt.

Es ist nicht zuletzt diese gewagte These, die Zizek mit großem Aufwand, mit Rückgriffen auf Kant und de Sade, auf Adorno und Hegel und vor allem in intensiver Auseinandersetzung mit Lacan ventiliert und durcharbeitet. Das Verhältnis zum Anderen ist, so Zizek, mit einem Lacan entlehnten Begriff, zuallerst durch die „jouissance“ bestimmt, durch den Genuß und den Nutzen, den der Andere gewährt oder der an ihm gewonnen werden kann.

Während in den grausamen Imaginationen des Marquis de Sade dieser Genuß rein mechanistisch durch die Reduktion des Anderen auf seinen reinen Objektstatus gedacht ist, ist Kant, de Sades großer geistiger Gegenspieler, dem Geheimnis dieses Genusses auf der Spur, indem er es dem Menschen verbieten will, den Anderen nur als Mittel zu gebrauchen. Kants kategorische Aufforderung, den Anderen stets auch als Selbstzweck zu betrachten – das heißt, ihn als Vernunftsubjekt zu achten –, enthält aber selbst wieder seine Tücken. Es bedeutete, den Anderen – etwa einen Mörder – tatsächlich als für seine Taten Verantwortlichen zu behandeln und ihn dafür zu verurteilen, „während alles Gerede über den Einfluß sozialer Verhältnisse ihm diese Achtung verweigert“, woraus Zizek den unangenehmen, aber bedenkenswerten Schluß zieht, daß die „heutige Täter-als-Opfer- und ,Verständnis‘-Mentalität die menschliche Würde weit weniger respektiert als die Kantsche und Hegelsche Idee der gerechten Strafe“. Nur die rigide Kantische Ethik macht jeden für seine Taten verantwortlich und gestattet ihm nicht, sich hinter einem „großen Anderen“ zu verstecken – hinter einem Gott, einem Befehl, der Geschichte, dem Fortschritt, der Gesellschaft, der schäbigen Kindheit und wie diese entlastenden Figuren auch immer genannt worden sein mögen.

Der Struktur der „jouissance“ war Kant aber deshalb näher gewesen als Sade, weil der Genuß das Verbotene selbst zu einer seiner Quellen zählt. Nicht nur das Verbotene zu tun bereitet Lust, sondern die Übertretung eines Verbots selbst ist eine Lust. In einer der beeindruckendsten Partien des Buches versucht Zizek aber auch zu zeigen, daß alle psychologischen Deutungen der Nazi-Täter einschließlich der These Goldhagens von ihrer Willfährigkeit aus Überzeugung einen Aspekt vernachlässigen: daß die Vollstrecker ihre Taten als eine Art „grenzverletzende Aktivität“ erlebten, als einen ekstatischen Genuß, der auch die Normen der Nazi-Gesellschaft durchbrach.

Und in dem Maß, so könnte man mit Zizek weiterdenken, in dem das Verhältnis zum Nächsten immer durch bestimmte Regeln festgelegt sein wird, wird die Verletzung dieser Regeln und damit die Verletzung des Anderen eine Form des Genusses darstellen. Mehr als alle Verbote kann einem so ein Gebot die Lust verderben, nämlich das Gebot: Genieße! Auf einer trivialen Ebene macht dies dann auch die Tristesse der verordneten Spaßkulturen und das Elend der Liebe im Zeitalter von Viagra aus.

In dem Maße, in dem die Sexualität mechanisiert und damit vom Anderen unabhängig wird, verliert sie ihre Bedeutung für die Beziehung zu dem Anderen. Potenz oder Potenzprobleme signalisieren dann keine wie immer deutbaren Empfindungen, sondern zeugen nur von der korrekten Dosierung eines Medikaments. Dieses wird, so Zizek, den Akt der Kopulation einfach entsexualisieren.

Tatsächlich aber leben wir nicht nur in einem Zeitalter der Entsexualisierung, sondern überhaupt in einem der Entkörperlichung. Folgerichtig landet auch Zizek am Ende seines Buches dann bei den digitalen Perversionen. Der Cyberspace, so Zizek, ist ein Raum, der vorab den Perversen bevorzugt. Im Gegensatz zum Neurotiker, der seine Lust aus der Übertretung eines Gesetzes gewinnt, unterwirft sich der Perverse einem Gesetz – und ist nicht der Cyberspace, unbeschwert von der Trägheit der Realität, beschränkt nur durch die Regeln, die er sich selbst auferlegt?

Der Cyberspace erlaubt es, als multiple virtuelle Person auf andere multiple virtuelle Personen zu stoßen, mit der alles möglich, aber nichts wirklich ist. Die Bewegung im Cyberspace gleicht einem „Durchqueren der Phantasie“, was uns die Chance gibt, Dinge in Szene zu setzen, die radikal entsubjektiviert sind und die ein reales Subjekt niemals annehmen könnte. In solchen digitalen Phantasien könnte man, so legen es Zizeks Schlußbemerkungen nahe, dem Nächsten so nahe sein, wie man es gerade noch aushält – man könnte aber auch fragen, ob es das war, was wir wollten, als wir uns einem Anderen zuwendeten. Slavoj Zizek: „Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne“. Verlag Volk und Welt, Berlin 1999, 286 Seiten, 42 DM

Die Gewalttaten von Hooligans und Neonazis sind das verborgene Antlitz der Toleranz selbst