Wie lange sind eigentlich vierzig Vollastjahre?

Gut sollen die Atomkonsensgespräche beim Kanzler gewesen sein, näher sei man sich gekommen. Aber selbst wenn es demnächst zu einer Einigung kommen sollte, bleiben – nicht nur grüne – Probleme. Das Gesetz muß wohl durch den Bundesrat  ■   Aus Hannover Jürgen Voges

Kaum war das Konsensgespräch zwischen dem Bundeskanzler, seinem beiden Ministern für Wirtschaft und Umwelt und den Chefs von RWE, Veba, Viag und Energie Baden-Württemberg gestern zu Ende, da demonstrierte Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye erneut die gewohnte Zuversicht. Nähergekommen sei man sich in dem guten Gespräch, ein neuer Termin sei vorgesehen, allerdings noch nicht vereinbart.

Zumindest in seinen Grundzügen weiter in der Diskussion bleibt damit das siebenseitige Papier, das Wirtschaftsminister Müller unter dem Titel „Verständigung über Eckpunkte zur Beendigung der Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke“ für die gestrige Atomkonsensrunde ausgearbeitet hatte.

In Müllers Konsensvorschlag finden sich zwei Angaben zur Höchstlebensdauer für Atomkraftwerke: eine gesetzliche, die nach einem Konsens in das Atomgesetz aufgenommen werden soll, und eine zweite, kürzere, über die die Bundesregierung und die Eigentümer und Betreiber der Atomkraftwerke einen öffentlich-rechtlichen Vertrag abschließen sollen. „Die Eigentümer/Betreiber verpflichten sich, jedes ihrer Kernkraftwerke spätestens (35) Kalenderjahre nach seiner jeweiligen Inbetriebnahme dauerhaft außer Betrieb zu nehmen“, heißt es mit Blick auf den Vertrag.

Vor allem an der Zahl 35, die auch Müller noch in Klammern gesetzt hat, entzündete sich bisher die Kritik der Grünen. An der Grundkonstruktion von Müllers Vorschlag eines per Vertrag abgesicherten Auslaufens der Atomkraft nahmen aber auch die Grünen auf ihrem Parteirat wenig Anstoß.

Die zweite, die gesetzliche Abschaltfrist soll nach Müllers Vorstellungen 40 Vollastjahre betragen. In die Berechnung von Vollastzeiten gehen Stillstände von AKWs gar nicht und Zeiten des Teillastbetriebes eben nur zum Teil ein. 40 Vollastjahre können daher gut und gerne 50 oder sogar 60 Betriebsjahren entsprechen.

Daß die gesetzliche Lebensdauer der AKWs nun weit über ihrer tatsächlichen liegen soll, begründet man im Bundeswirtschaftsministerium mit dem Willen zu einem Konsens, der nicht zu einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht führt. Die gesetzliche Lebensdauer soll gerade nicht in die Eigentumsrechte der Energieversorger an ihren AKWs eingreifen. Jedes Bundesland, gerade ein unionsregiertes, könne ein echtes, in Eigentumsrechte eingreifendes Ausstiegsgesetz vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen, hieß es schon vor Wochen in Müllers Umgebung.

Gegen einen öffentlich-rechtlichen Vertrag, in dem die AKW-Eigentümer selbst eine Betriebszeitbefristung vereinbaren und damit von sich aus auf einen Teil Eigentumsrechte verzichten, können natürlich weder sie selbst, noch Dritte eine Verletzung der Eigentumsgarantie ins Feld führen. Die Bundesregierung soll dann im Gegenzug für die vereinbarte Restlaufzeit zusichern, daß eine „Ausnutzung der Restlaufzeit nicht durch behördliche Intervention gestört wird“. Wenn die staatliche Seite diese oder andere wesentliche Bestimmungen des Vertrages verletzt, steht der Betreiberseite ein Kündigungsrecht zu. Allerdings dürfen sie erst nach Anrufung und Entscheidung einer Schiedsstelle kündigen, die sich aus dem Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts und zweier Oberverwaltungsgerichte zusammensetzen soll. Ein Kündigungsrecht der Bundesregierung ist nicht vorgesehen, so daß der Vertrag auf den ersten Blick auch über Bonner Regierungswechsel hinaus Bestand hat.

Allerdings könnte natürlich eine Bundesregierung anderer Couleur sich jederzeit mit den Energieversorgern auf einen anderen Vertrag oder eine Aufhebung des gesamten Vertragswerkes einigen. Zudem bedarf auch ein öffentlich-rechtlicher Vertrag wohl der Zustimmung des Bundesrates. Die Bundesregierung beabsichtige, den Vertrag „dem Bundestag (und dem Bundesrat) zur Zustimmung vorzulegen“, schreibt Müller selbst. Die Unionsmehrheit in der Länderkammer könnte so in die komfortable Situation kommen, das Atomgesetz mit seinen 40 Vollastjahren passieren zu lassen, um danach den Vertrag mit den kürzeren Auslauffristen blockieren zu können.

Eher als einen schlechten Scherz hat man eine Forderung der vier großen Energieversorger aufzufassen, die der Wirtschaftsminister seinem Papier nur angehängt hat, die er sich aber nicht zu eigen macht. Danach soll der Bundeskanzler den für Reaktorsicherheit zuständigen Umweltminister teilweise entmachten, indem für wesentliche Entscheidungen bei Vollzug des Atomgesetzes die Mitzeichnung durch die Bundesminister für Justiz und Wirtschaft erforderlich wird. Einen solchen Eingriff von Seiten der AKW-Betreiber in die Geschäftsverteilung im Bundeskabinett hat sich inzwischen auch die SPD-Bundestagsfraktion verbeten.