■ Nebenkriegsschauplatz
: Der elende Hühnerdieb von der „Zeit“

Am zweiten Abend, nachdem die Soldaten der Bundeswehr im Süden des Kosovo einmarschiert waren und die Albaner in der Stadt Prizren vor Freude auf den Straßen tanzten, bekamen die mitgereisten Journalisten aus aller Welt Hunger. Sie hatten an alles gedacht: an Satellitentelefone und an digitale Fotoapparate, an schußsichere Westen und an Durchfalltabletten. Doch Essen mitzunehmen, hatten die meisten von ihnen vergessen, und so fragten sie im einzig offenen Hotel der Stadt nach der Speisekarte. Im Hotel „Theranda“ gab es aber nur Orangenlimonade. Man war nicht vorbereitet auf den Ansturm der Medienvertreter, und außerdem hatten die Serben noch vorher das Lager geräumt (bis auf die Orangenlimonade).

Etwas ratlos machten auch wir uns auf die Suche nach Nahrungsmitteln und kurvten ziellos durch die Stadt, als plötzlich Scheiben klirrten und eine Menge von etwa 50 Kindern und Männern aus einer serbischen Weinhandlung Flaschen plünderten. Auf das Rufen unseres albanischen Fahrers hin reichte man bereitwillig einen Karton „Kosovsko Vino“ der Sorte „Merlot“ in unseren alten Mercedes.

Immerhin: Den Wein zum Essen hatten wir, nur kein einziges Restaurant hatte in Prizren geöffnet, weil entweder der Wirt geflohen oder Schlimmeres war oder aber mit seinen Landsleuten auf der Straße feierte. Bis auf einen. Gleich hinter der mittelalterlichen Brücke über die Bistrica. Dort hatte noch bis vor zwei Tagen ein Serbe Pizza gebacken, jetzt hatte ein Kosovare die Türe aufgesperrt und das Lokal albanisiert. Irgendwoher hatte er sechs Hühner, die am Drehspieß grillten. In einer Stunde, versprach uns der Wirt, seien sie gar.

Daß wir uns einen Tisch organisiert und auf die Terrasse gestellt hatten, um den herum wir auf leeren Bierkästen saßen, war nicht unbemerkt geblieben. Bald saßen wir nicht mehr alleine, bald füllte sich die Terrasse mit lauter hungrigen Journalisten, die alle auf die sechs Grillhähnchen starrten. Am gierigsten sah ein schon etwas grau gewordener Herr aus, der uns als deutscher „Schriftsteller“ vorgestellt wurde und selbstverständlich für Die Zeit schrieb. In Erwartung unserer Hähnchen waren wir in spendabler Laune und schenkten allen, die danach verlangten, unseren „Kosovsko Vino“ aus.

Vielleicht war es die Wirkung des Weines, vielleicht war es die ausgelassene Stimmung der Albaner, die auf der Brücke tanzten, daß wir der Tatsache keine Bedeutung zumaßen, daß hinter unserem Rücken immer mehr Journalisten in das Lokal schlichen und mit dem Wirt leise flüsterten. Einmal wollte der Fotograf einer internationalen Presseagentur, der mit uns am Tisch saß, sogar gesehen haben, wie ein Reporter einer dänischen Fernsehanstalt dem Wirt einen Geldschein zuschob.

Als der Wirt nach einiger Zeit Anstalten machte, die Hähnchen aus dem Grill zu nehmen, war sein Lokal schlagartig gefüllt. Alle stürzten von draußen nach drinnen, alle schrien gleichzeitig in allen Sprachen der Welt, daß sie reserviert und vorbestellt und das Recht hätten, auf ein, und wenn nicht dies, dann doch wenigstens auf ein halbes Hähnchen. Nur wir blieben draußen, weil wir sicher waren, die ersten gewesen zu sein. Darum läßt sich auch aus unserer Runde kein Zeuge dafür finden, was genau dazu führte, daß die Glasvitrine in Scherben ging und zwei Journalisten aufeinander einprügelten.

In der allgemeinen Verwirrung muß es dem Schriftsteller gelungen sein, sich eines halben Hähnchens zu bemächtigen. Er saß jedenfalls plötzlich am Nachbartisch und aß, ohne uns, die wir nichts bekommen hatten, auch nur einen Flügel davon anzubieten. Aber unseren Wein trinken! Nur mit Mühe konnten wir den bei uns sitzenden Agenturfotografen abhalten, erst dem Wirt, dann dem Schriftsteller und dann allen anderen, die den Wirt offensichtlich bestochen hatten, Gewalt anzutun. Er hatte seit drei Tagen nichts mehr gegessen und zeigte nun, während wir ihn an den Füßen festhielten, allen seine Fäuste.

Irgendwer brachte uns ein paar Erdnüsse. Und weil wir nun demonstrativ alle unsere Weinflaschen aus dem Auto geholt und auf den Tisch gestellt hatten, erregten auch wir den Neid der elenden Hühnchen-Fresser, die ihr Fleisch trocken hinunterwürgen mußten. Die Stimmung blieb feindlich. Wir haben niemandem an diesem Abend auch nur einen Schluck mehr abgegeben.

Philipp Maußhardt