Ein sterbendes Dorf auf der Startbahn

Das Ende der Gemeinde Diepensee am Stadtrand von Berlin wurde gestern besiegelt. Bis zum Jahr 2004 muß das Dorf dem geplanten Großflughafen Schönefeld weichen. Schon jetzt stehen die ersten Häuser leer. Viele Diepenseer maulen – aber nicht alle sind so unzufrieden  ■   Von Philipp Gessler

Die Johannisbeeren: prächtig, die Tomaten: vielversprechend; die Zwiebeln: blühend – Günter Schmidt werkelt im Blaumann mit der Harke in den Beeten und könnte stolz sein auf diese Pracht. Könnte. „Ich bringe alles in Schuß“, meint der Rentner mürrisch, „aber ich hab' gar keine Lust mehr: Ich muß ja eh bald weg.“

Der ehemalige Schlosser ist Hausbesitzer am Rand der Gemeinde Diepensee im Südosten Berlins, gleich neben dem Flughafen Schönefeld. Und der ist sein Schicksal. Denn Schmidt ist einer von rund 350 Bürgerinnen und Bürgern, die nur noch bis 2004 ihre Heimat behalten können. Dann wird Diepensee platt gemacht, um Platz zu machen für den geplanten Großflughafen Berlin Brandenburg International (BBI). Damit wird das 651 Jahre alte Dorf verschwinden – doch das Sterben hat längst begonnen.

Die alten Dorfhäuser rechts vom Friedhof sind am Zerfallen, die Türen der dunkelbraunen, zweistöckigen Backsteinbauten sind zugenagelt, die Fensterscheibe vom alten Lebensmittelladen eingeschlagen. Keine Menschenseele auf der kopfsteingepflasterten, engen Straße. Hier kann niemand mehr fortziehen.

Günter Schmidt muß es, aber „ich möchte lieber hierbleiben“, sagt er resigniert, „ich bin hier groß geworden“. Das wiederholt er zweimal. Die Diepenseer haben sich mit Mehrheit entschieden, nach Deutsch Wusterhausen, einem Stadtteil des nahen Königs Wusterhausen, umzusiedeln.

Und diese Entscheidung wird ihnen vergoldet. Keiner soll dabei finanzielle oder materielle Einbußen erleiden, verspricht der Umsiedlungsvertrag, der heute von den Landeschefs Berlins und Brandenburgs, Eberhard Diepgen (CDU) und Manfred Stolpe (SPD), unterschrieben wird. Mitunterzeichner sind auch die Bürgermeister von Diepensee und Selchow, einem Ort in der Nachbarschaft, von dem nur etwa eine Straße dem Großprojekt weichen muß.

„Es gibt welche, die schauen sich schon Fertighäuser an“, berichtet Schmidt mit bitterer Ironie über seine Nachbarn im Dorf. In Neu-Diepensee sollen alle Umsiedler quantitativ und qualitativ gleichwertigen Wohnraum erhalten: „Neu für alt“, sei das Prinzip, erklärt Schmidt. Er wurde hier im Ort geboren und wohnt seit 50 Jahren in seinem gepflegten zweistökkigen Häuschen. „Neu für alt“ bedeutet: Wer ein Haus verliert, soll eines bekommen. Wer zur Miete wohnte, erhält eine Mietwohnung.

Mindestens 180 Millionen Mark werden die privaten Bauherren um den Konzern Hochtief sowie Berlin und Brandenburg für den Umzug ausgeben. Gemeindebüro, Freizeitheim, Feuerwehr und Kita, all das soll neu entstehen – so ist es in dem gut 50seitigen Vertrag geregelt. Und er sieht auch vor, daß die Diepenseer und Selchower beim geplanten Flughafen bevorzugt eingestellt werden. Selbst für Beratung in Steuer-, Rechts- und Finanzfragen gibt's Zuschüsse: bis zu 10.000 Mark.

Das viele Geld lädt ein zum Tricksen. Die zwölfjährige Maria etwa ist mit ihrer Mutter erst „seit Herrentag“ in die Gemeinde gezogen, wie sie freimütig an der beschmierten Bushaltestelle des Ortes erklärt: Sie wohnen jetzt bei ihrer Oma, „weil wir dann alles ersetzt kriegen“. Dann kommt der Bus, der das Dorf nachmittags alle zwanzig Minuten ansteuert. Einen Fahrplan gibt es nicht mehr, wo er früher hing, prangt ein Graffiti.

Maria wohnt am Ortsrand in einem der vier dreistöckigen Mini-Plattenbauten mit jeweils 24 Wohnungen. Hier lebt auch Dieter Friedrich, 56 Jahre alt und seit 1990 arbeitslos. Er sei froh, erklärt er, aus den „Betondingern“ rauszukommen. Hier sei doch „alles marode“, viele Wohnungen feucht, und investiert werde hier „nichts mehr“. Er hofft auf eine bessere Wohnung und hat sich mit anderen auch schon den neuen Ort Kausche angeschaut. Der liegt in der Lausitz und soll das erste komplette Dorf sein, das nach dem Fall der Mauer in Ostdeutschland dem Braunkohletagebau weichen mußte. Klar, erklärt er, man werde zukünftig wohl enger wohnen. Aber Hauptsache, es sei dort ordentlicher. „Groß dagegen“, so meint Friedrich, „war keiner. Außer den Hauseigentümern“ – von denen es im Ort ungefähr 50 gibt. „Jeder möchte jetzt das meiste rausschlagen“: Er kenne sogar jemanden, der noch „kräftig baut“, da er sonst keine Entschädigung bekomme.

Ähnlich pragmatisch ist auch der ehrenamtliche Bürgermeister Diepensees, Michael Pilz. Er sitzt in dem Gemeindebüro, in dem er nur einmal die Woche für eine Stunde Sprechstunde hält. Die hellbraunen Möbel seines Büros in einem alten Gutshaus stammen offenbar noch aus der DDR-Produktion, die Graffitis an der Außenwand sind frischer. Die Entscheidung zur Umsiedlung Diepensees, „hat uns nicht so gefallen“, sagt der 39jährige Bartträger mit der Gutmütigkeit eines Walrosses. Aber da die Entscheidung nun mal gefallen sei und man sich als arme Gemeinde nicht auf einen gefährlichen und teureren Rechtstreit habe einlassen wollen, habe man das „Ziel gehabt, sozialverträgliche Parameter zu schaffen“.

Selbst in den Plattenbauten am Ortsrand, wo auch er wohnt, gebe es Leute, die gern hiergeblieben wären, da sie dort „ein Stück Heimat gefunden haben“. Sein „persönliches Ziel“ sei es deshalb nicht gewesen, „jemanden zu überreden, es schön zu finden“. Er habe vielmehr helfen wollen, daß man mit der neuen Situation „klarkommt“. Dann zeigt der parteilose Bürgermeister einen Ordner mit Maßnahmen zur Dorfverschönerung: Blumenkasten für den Dorfplatz, Laternen für die Straßen. „Das ist ganz wichtig, daß man das Dorf nicht hängenläßt“, betont seine Mitarbeiterin Siegrid Bringmann. Die Menschen müssen betreut werden, auch in den letzten Jahren des Dorfes. Immerhin, der Jugendclub nebenan hat einen Billardtisch bekommen. Gespendet hat ihn der Flughafen.