Normalzeit

Neuköllner Hoffnungsträgerinnen  ■ Von Helmut Höge

Am Europäischen Theater-Institut inszenierte Victor Shulman mit Studenten Szenen aus zwei Stücken des im Baikalsee ertrunkenen Autors Vampilow: „Sibirischer Tango“ – proletarische Beziehungskisten am Rande von Irkutsk und im dortigen Café „Vergißmeinicht“ 1937. Ich fand ihre „Problematiken“ überholt. Dann geriet ich jedoch auf die Event- Rallye „48 Stunden Neukölln“, und es war alles genauso: Erst einmal gab es dort die Revue „Tanze niemals mit einem Eskimo Tango“ und dann die Findeiß-Lesung „Heimat der Schneestürme“. Aber das war noch nicht alles: Schon etwas breit suchte ich Halt an der Theke des Thai-Treffs „New Home“, wo ich mit einer noch breiteren Päng Bekanntschaft machte.

Die kleine Laotin war das Gegenteil von einer großen Chaotin: Sie fragte als erstes, ob ich verheiratet sei und Kinder habe. Als ich das verneinte, sagte sie: Ihr ginge es genauso, aber sie strebe beides an. Dann lieh sie sich zehn Mark von mir, kaufte eine Blumenkette für den Sänger, hängte sie ihm um den Hals und fing an zu tanzen. Anschließend erzählte sie mir, sie könne auch singen: „Vier laotische, zwei vietnamesische und ein chinesisches Lied.“ Dann leerte sie ihr Glas und schickte mich mit ihrem Regenschirm raus – ich sollte an der Ecke warten – mit der Begründung: „Sonst denken die hier, ich bin ein Club-Mädchen, ich bin aber Putzfrau und wohne bei meiner Schwester.“ Draußen wurde es bereits hell, ich begleitete Päng zum Hermannplatz.

„Mit zu dir will ich nicht,“ sagte sie: „Nicht weil ich Angst vorm Penis habe. Das kenne ich nämlich: Ich hatte zehn Jahre einen Mann, und einmal fing ich auch in einem Club an, weil ich kein Geld hatte. Aber ich war hinterher schweißgebadet und habe gezittert, das war nicht gut. Lieber putze ich oder sonst was, ich kann alles. Übrigens trage ich eine Perükke. Weiß du, warum? Ich war drei Monate Nonne in einem buddhistischen Kloster in Laos, auf dem Dorf, und da bekommt man den Kopf geschoren, das Haar muß jetzt erst wieder nachwachsen. Weil ich Buddhistin bin, rauche ich nicht, esse kein Fleisch und lebe ziemlich sauber, außer daß ich alle zwei Monate mal Wein trinke. Gib mir deine Telefonnummer, ich ruf dich an. Ich mache gerne Picknick im Grunewald in meiner Freizeit. Wenn ich nicht arbeitslos werde, fahre ich übernächstes Jahr wieder nach Laos, dann kannst du mitkommen ...“ Sagte sie, gab mir einen Kuß – und sprang husch in die U-Bahn.

Ich ging zurück – in den Jazzkeller „Atalante“, dort traf ich Uwe – mit einer großen Blonden. Sie arbeitete bei Mannesmann- Mobilfunk: „Das ist aber nur zum Geldverdienen“, meinte sie, „eigentlich interessiere ich mich für Meridiane und Therapien: Schakren, Bhagwan und so“. Später gesellte sich noch eine andere Blondine zu uns: Sie hatte lange als Kellnerin gearbeitet und dann mit ihrem Freund ein Kulturprojekt in Mitte organisiert. Als das Bezirksamt mit Auflagen kam, war Schluß. Sie bekommt nun Stütze, aber demnächst macht sie eine Marketing-Ausbildung. Uwe hatte Ähnliches hinter sich: „Das ist alles Quatsch, die Kulturprojekte sind das einzige, was hier läuft. Warum machen die denn ,48 Stunden Neukölln'? Weil ein Laden nach dem anderen pleite geht – und es hier bald nur noch Kulturprojekte gibt. Wo sind denn hier die Hauptveranstaltungen? In den drei Atelierhäusern, der Körnerparkgalerie, in der Frauenschmiede, im Heimat- und im Puppentheater-Museum, im Theaterhaus, im Britzer Schloß, in der Werkstatt der Kulturen, im Saalbau und die Oper – alles genaugenommen ABM-Projekte.“

Und was sind die Hauptattraktionen? fragte ich ihn. „Die jungen Kopftuch-Türkinnen“, kam es wie aus der Pistole geschossen: „Also, das ist ein richtiges Neuköllner Fräuleinwunder.“ In Kreuzberg haben wir das auch, sagte ich. „Ach“, winkte Uwe ab. „Aber nicht so viele und tolle wie hier“, kam es wie aus einem Mund von der Mannesmann- und der Marketing-Blondine: „Wetten, in zwei Jahren wird das eine internationale Mode werden – Kopftuch und Hotpants!“