Einbruch in die Rituale

■ Der Soziologe Helmut Dubiel über die NS-Debatten im Parlament und seine Erwartungen an die heutige Mahnmal-Auseinandersetzung

taz: Die Entscheidung über das Mahnmal ist erst im Bundestag gelandet, als niemand mehr wußte, wie man sonst zu einer Einigung kommen sollte. Ist das Parlament zur Endlagerstätte strittiger Geschichtsfragen geworden?

Helmut Dubiel: Im Fall des Mahnmals gilt das sicher. Das ist sehr unglücklich, weil der Gestaltungsspielraum, der dem Bundestag geblieben ist, nur noch sehr, sehr klein ist. Er hat nicht mal mehr die Freiheit, die Entscheidung zu vertagen, weil die Kosten für seine Reputation zu hoch wären. Das ist schon eine Situation, die mich als Parlamentarier ausgesprochen sauer machen würde.

Also keine große Debatte?

Das kann man noch nicht sagen. In der Geschichte der Bundesrepublik hatten manche Reden große Wirkung, ohne mit legislativen Entscheidungen verbunden zu sein. Ganz groß war die Resonanz auf die 8.-Mai-Rede von Weizsäkker, auch die Skandalrede von Jenninger hat unendlich viel erzeugt an Reflexion und Bewußtsein. Wenn der Bundestag sich tatsächlich für das Eisenman-Projekt entscheiden würde, bin ich sicher, daß die deprimierende und verwirrende Vorgeschichte schnell vergessen würde.

Sie haben NS-Debatten im Bundestag seit 1949 untersucht. Worauf werden Sie heute achten?

Ich bin gespannt, welcher Grad von Polarisierung zugelassen wird. Bei den NS-Debatten war es durchweg so, daß es immer einen zwanghaften Konsensbedarf gab. In den 50er Jahren war es eine Strategie des kommunikativen Beschweigens, später die fast religiöse Sehnsucht nach einer radikalen Abkehr von der Vergangenheit. Die NS-Zeit gilt als Sprengsatz und wurde immer mit Samthandschuhen diskutiert.

Im Ausland herrscht das Bild vor, heute bestimme Verunsicherung die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Gleichzeitig gibt es nach bald 60 Jahren eine zunehmende Routine im Umgang mit der NS-Zeit. Wo sehen Sie die Debattenkultur?

Mich erstaunt, daß beides gleichzeitig passiert. Die jährliche Gedenkveranstaltung zum 8. Mai im Bundestag ist eine Routineveranstaltung. Da spult man einfach ein Pflichtprogramm ab, bei dem bestimmte Versatzstücke, etwa aus Weizsäckers Rede, immer wieder verwendet werden. Es gibt da eine mechanische Ritualisierung, ähnlich dem inszenierten Antifaschismus der DDR. Es gibt aber auch immer wieder extrem bewegende, authentische Einbrüche.

Zum Beispiel?

Bei der Debatte über die Wehrmachtsausstellung. Da redeten Politiker nicht wie Funktionäre, sondern wie verletzliche Menschen, zum Teil den Tränen nahe. Quer durch die Fraktionen erzählten sie von ihren Familiengeschichten, offenbarten das Verhältnis zu ihren schuldbeladenen Eltern – das totale Gegenteil von ritueller Erstarrung.

Ist das das Ideal?

Vielleicht kann man einem Politiker nicht ernsthaft abfordern, bei jedem Anlaß auf einen Authentizitätsknopf in seinem Herzen zu drücken. Aber ich glaube, daß man als Zuhörer unterscheiden kann. Ein Beispiel: Der Zusammenhang zwischen Auschwitz und Kosovo war vielleicht überzogen, das war vielleicht schief. Aber bei Joschka Fischer und Rudolf Scharping hatte ich den Eindruck, sie meinen das ernst. Die Prägung ihrer Biographie durch die nachträgliche Erfahrung von Auschwitz ist hochauthentisch.

Der Einsatz im Kosovo ist diskutiert worden als Auseinandersetzung zwischen „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“. Zeigt das nicht, daß längst alle moralischen Debatten in Deutschland zu NS-Debatten geworden sind?

Das kann man so sagen – und es positiv wie negativ ausdrücken. Die kontaminierende Kraft der Vergangenheit ist so allumfassend, daß es kaum noch einen Bereich der Politik gibt, wo sie nicht irgendeine Rolle spielt. Positiv betrachtet, hat die Vergangenheit deutsche Politiker in einer Weise für die Gefahr der Regression einer Zivilisation wach gemacht, wie sie vielleicht in anderen Gesellschaften nicht existiert.

Manche sagen ja sarkastisch, die Deutschen wollten eben immer die Gründlichsten sein. Nur daß sich der Vorsatz diesmal in der Energie zeigt, mit der die Deutschen ihre Seelen von einer schmutzigen Vergangenheit sauberschrubben.

Die neue Inszenierung von Schande als ein Medium nationaler Selbstreflexion ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Clinton entschuldigt sich für die Verbrechen der Sklaverei, Chirac und die norwegische Ministerpräsidentin entschuldigen sich für die Kollaboration bei der Deportation der Juden, die Kolonialregimes entschuldigen sich für ihre Verbrechen. Wir befinden uns also in einer fast erdrutschartigen Veränderung der Art und Weise, wie westliche Gesellschaften ihr eigenes Legitimitätsmuster gestalten. Es ist keine triumphalistische Geschichtsschreibung mehr, sondern das Betrachten der Leichen im Keller. Es ist natürlich heikel, das so zu sagen, aber die Erfahrung der Deutschen nach dem Holocaust ist dafür modellbildend.

Auschwitz wird zur Universalmetapher, „Schindlers Liste“ war ein enormer Erfolg, und das Dritte Reich gehört zum Kanon in deutschen Schulklassen. Was am Umgang mit der NS-Vergangenheit ist heute überhaupt noch strittig?

Strittig ist immer noch, ob es illegitim ist, sich auf Auschwitz instrumentell zu beziehen. Deutlich wurde das in der Kritik an den Aussagen von Fischer und Scharping im Kosovo-Konflikt.

Gerade Debatten über die NS-Zeit bergen die Gefahr von Blamagen, wie der Fall Jenninger zeigte. Wann gehen denn Reden über die deutsche Vergangenheit schief?

Jenninger war ein tragischer Vorgang. Er wollte Weizsäcker noch überbieten. Weizsäckers Worte zeugten vielleicht von der moralischen Qualität seiner Person, vor allem aber von rhetorischer Kunst. Jemand, der sich wie Jenninger nach vorne drängt, muß diese Fähigkeit haben. Wenn er sie nicht hat, soll er den Mund halten.

Interview: Patrik Schwarz ‚/B‘ Helmut Dubiel (52) veröffentlichte dieses Jahr ein Buch über die NS-Debatten im Bundestag seit 1949 (Hanser Verlag). Er lehrt Soziologie an der Uni Gießen.