Unbekanntes Wesen

Polizeiforschung ist in den USA, Großbritannien oder Frankreich fester Bestandteil universitärer Forschung. Und bei den Polizeien werden die gesellschaftlichen Rückwirkungen ihres Handelns wissenschaftlich begleitet: So untersuchen amerikanische Studien immer wieder die Streifentätigkeit der Polizei. In Deutschland ist Polizeiforschung – kritische zumal –eine vernachlässigte Disziplin.  ■ Von Otto Diederichs

Zwei Tage lang berieten eine Frau und vierzehn Männer. Als sie das kleine westfälische Städtchen Hiltrup bei Münster am 25. Mai 1989 wieder verließen, war die „Deutsche Gesellschaft für Polizeigeschichte e. V.“ gegründet. Als Traditionsverein der Polizei oder als Tauschbörse für Effekten- und Devotionaliensammler, wie man zunächst vermuten könnte, wollten sie ihre Gesellschaft nicht verstanden wissen. Obwohl auch diese hier ihren Platz finden sollten. Wichtiger war den Gründern, fast ausnahmslos aktive oder ehemalige Polizeiangehörige, etwas anderes: Die erste überregionale Organisation in Deutschland sollte es werden, „die sich mit der Polizeigeschichte in vielfältiger Weise beschäftigen will“.

Die geschichtliche Entwicklung der Polizei dokumentieren, die polizeigeschichtliche Forschung unterstützen und vorantreiben und das historische Bewußtsein innerhalb und außerhalb der Polizei fördern. Dazu sollten Geschichtswissenschaftler ebenso wie Amateurhistoriker, die behördlichen Sammlungen der Polizeimuseen wie auch private Sammler unter einem Dach Platz finden. Ein knappes Jahr später, im Februar 1990, hatte der Verein bereits 100 Mitglieder. Heute sind es über 350.

Das hochgesteckte Ziel, einen eigenständigen Beitrag zur Polizeiforschung in der Bundesrepublik zu leisten, hat die Gesellschaft allerdings nur bedingt erreichen können. Ohne Frage ist aus ihren Reihen das eine oder andere sinnvolle Scherflein beigesteuert worden. Etwa zur Geschichte des Landeskriminalamtes in Nordrhein-Westfalen oder der deutschen Wasserschutzpolizeien. Auch aus dem Archiv für Polizeigeschichte, ihrer Fachzeitschrift mit Kurzbeiträgen zu altvorderen Polizeigrößen und –einrichtungen, läßt sich gelegentlich Honig saugen. Vieles von dem, was im Rahmen der „Gesellschaft für Polizeigeschichte“ produziert wird, verharrt allerdings auf der unkritischen Ebene nostalgischer Polizeibetrachtung.

Beispielsweise Erich Radecke. Akribisch sammelt und dokumentiert er alles, was er auf seinem Lebensweg so findet: Polizeiuniformen und Uniformteile, Fotos und anderes, was sich nur irgendwie mit Polizei in Verbindung bringen läßt. Daraus bastelt er daheim detaillierte Fotobücher. Ein feines Hobby für einen älteren Herrn, amüsant auch für Betrachter. Möglicherweise sogar interessant bis wichtig für Historiker oder Filmausstatter. Für die Polizeiforschung jedoch eher nutzlos. Damit immerhin weist der frühere Hamburger Polizeireiter exakt auf jenes Dilemma hin, das die deutsche Polizeiforschung insgesamt kennzeichnet.

Polizeiforschung, was ist das eigentlich? Forschung für die Polizei, Forschung durch die Polizei oder Forschung über die Polizei? Da geht es schon los, da scheiden sich die Geister. Ein Blick ins Internet macht den Begriffssalat komplett. Viele kunterbunte Ladenhüter aus dem Fachgeschäft für Kuriositäten. Dabei müssen sich „für – durch – über“ die Polizei gegenseitig nicht einmal grundsätzlich ausschließen. Jedenfalls dann nicht, wenn man die ideologische Brille weniger fest auf die Nase drückt. Forschung über die Polizei kann immer auch Forschung für die Polizei sein. Allerdings muß man die darin enthaltenen Angebote annehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen wollen. Andere Staaten haben das längst begriffen.

Da die eigene Forschung hier aus den Kinderschuhen noch immer nicht heraus ist, greifen die deutschen Polizeien zwangsläufig auf solche Ergebnisse zurück. Das „Kansas City Preventive Patrol Experiment“ oder das „Newark Foot Experiment“ ist auch in den Führungsetagen deutscher Sicherheitsprofis nicht gänzlich unbekannt. Konsumiert wird es wie Fast food. Wenn der kleine Hunger kommt. Bekannte Nebenwirkungen: Keine. In Deutschland wird Polizeiforschung in erster Linie als Grundlagenforschung zur Verbesserung der Kriminaltechnik sowie polizeilicher Einsatzmittel und –konzeptionen verstanden und betrieben. „Praxisbezogene Methoden- und Zweckforschung für die kriminalpolizeilichen Arbeitsweisen sowie die Analyse statistischer Aussagen über Veränderungen und Entwicklungen der Kriminalität“ zu betreiben wurde dem Bundeskriminalamt im Juni 1972 aufgetragen, vor einem guten Vierteljahrhundert also. An der Aufgabenstellung hat sich seither nur wenig verändert.

Ähnlich die Situation an der Polizei-Führungsakademie (PFA). Sie betreibt seit 1974 ebenfalls Forschung im Bereich der „polizeilichen Wissenschaften“, Kriminologie und Kriminalistik. Ein Jahr später wurde der PFA zudem eine „Forschungs- und Entwicklungsstelle für Polizeitechnik“ angegliedert. Deren Aufgabe besteht in der „Entwicklung und Erprobung von technischen Verfahren und Geräten“ sowie dem entsprechenden internationalen Informationsaustausch.

Ohne Wenn und Aber ist die Suche nach neuen technischen Verbesserungen für die kriminalpolizeiliche Beweisführung etwa bei Umweltstraftaten, Mordfällen oder anderen Spielarten der (Gewalt-) Kriminalität notwendig. Auch die Entwicklung weniger gefährlicher Munition ist sinnvoll und längst überfällig. Nicht zuletzt ein Vorfall vom November 1998 hat dies gezeigt. Damals hatte eine Münchner Polizistin auf einen geistesgestörten Mann geschossen, der sie mit einem Messer angriff. Beide Projektile durchschlugen den Körper des Mannes und töteten zudem seinen hinter ihm stehenden Bruder.

Schwerlich läßt sich wohl auch etwas dagegen einwenden, die Einsatzkleidung von Polizisten zu optimieren. Ebenso kann die fehlerfrei durchgeführte Genanalyse derzeit als die wohl sicherste Methode gelten, einen Vergewaltiger oder Mörder zu überführen. Selbst das Geständnis eines Verdächtigen ist unter kriminalistischen Aspekten weniger eindeutig. Zugleich jedoch bietet sie ohne ein gesetzliches Regelwerk, das ihrer Anwendung enge Grenzen setzt, eine früher kaum geahnte Fülle von Möglichkeiten, Menschen zu erfassen und in Dateien zum jederzeitigen Abruf zu speichern.

Ähnliches gilt für den Großen Lauschangriff. Auch hier dürfen die technischen Möglichkeiten nicht losgelöst werden von den potentiellen gesellschaftlichen oder ethischen Folgeerscheinungen und Werten. Zum Beispiel einem drohenden Verlust der Privatsphäre. Solche Fragen jedoch stellt sich die von Sicherheitsbehörden betriebene Polizeiforschung hierzulande selten. Eingeengt auf den Blickwinkel polizeilicher Arbeitseffektivierung, zählt nur das Ergebnis.

Weithin Brachland umgibt auch den Olymp der Universitäten. In den Elfenbeintürmen werden Polizei, Geheimdienste und Innere Sicherheit nur selten in den Blick kritischer Wissenschaft genommen. Dann und wann werden sie in soziologischen und kriminologischen Projekten kurzfristig gestreift. Kontinuierlich beackert wird gesellschaftsorientierte, sprich bürgerrechtlich ausgerichtete Polizeiforschung hingegen nur in einem kleinen Institütchen der Freien Universität Berlin. 1978 trat hier eine Arbeitsgruppe mit dem nicht gerade unbescheidenen Anspruch an, der Inneren Rüstung und dem Inneren Frieden in der deutschen Vorwende-Republik nachzuspüren. Von ständiger Finanznot gebeutelt, siedelt das „Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e. V.“ immer noch auf ebenjener brüchigen Klippe, auf der die Arbeitsgruppe seinerzeit das Fundament legte. Überlebenskünstler. Nicht nur in Sicherheitskreisen ist die dort betriebene kritische Polizeiforschung wenig populär. Zugegeben, der Beißreflex der frühen Jahre, als die Gewerkschaft der Polizei ein „Kontaktverbot“ über die Gruppe verhängte, ist vorbei. Die Dunkelmänner vom Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz haben ihre dienstliche Schnüffelei eingestellt. Auch die Stasi hat ihr Interesse aufgegeben. Deren Gründe sind bekannt, freiwillig war es nicht. Wenigstens an dieser Stelle reichen Sicherheitsbehörden und universitäre Wissenschaft einander immerhin die Hand.

Gleichwohl, kritische Distanz und Begleitung ist nach wie vor kaum gefragt. Sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen, finden sich nach wie vor nur wenige Polizeibeamte, Ministeriale und Innenpolitiker bereit. Auch in den bei Bewerbungen für akademische Laufbahnen abverlangten Publikationsnachweisen tauchen Arbeiten, die im Rahmen des Berliner Institütchens entstanden sind, eher selten auf. Vorteilhaft ist das für niemanden. Macht aber nichts. Polizei und Politik sichert es ein bequemes Leben. Und auch für eine Karriere auf dem Campus ist die Eingliederung in zeitgemäße Strömungsforschung allemal besser. Kritische Wissenschaft? Polizeiforschung? Ach, Jugendsünden, lange vorbei. – Also her mit den Bilderbüchern von Erich Radecke. Ordnungshüter von 1919 bis 1939. Aha, so sahen die damals aus. Ist doch interessant.

Literatur: Bücher, die aus den Reihen der „Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte“ entstanden sind: Heemann/Meyer: „Historisches vom Strom. Die deutschen Wasserschutzpolizeien“. Verlag Krüpfgans Erich Radecke: „Ordnungshüter 1919 bis 1939 in Deutschland. Bilder aus privaten Fotoalben“. Schardt-Verlag

Bücher, die unter dem Dach des „Instituts für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit“ entstanden:

Heiner Busch: „Grenzenlose Polizei? Neue Grenzen und polizeiliche Zusammenarbeit in Europa“. Verlag Westfälisches Dampfboot

Norbert Pütter: „Der OK-Komplex. Organisierte Kriminalität und ihre Folgen für die Polizei in Deutschland“. Verlag Westfälisches Dampfboot

„Informationsdienst Bürgerrechte und Polizei/CILIP“, erscheint dreimal jährlich

Otto Diederichs, 48, wurde einst mit dem Schlagstock für das Thema Polizei sensibilisiert. Er schreibt heute als freier Autor über Polizei und Geheimdienste und lebt in Berlin.