Unerwünschte Männer

Homosexuelle freuten sich nach der Befreiung vom NS-Regime zu früh. Die demokratischen Regierungen der Nachkriegszeit gingen kaum weniger drakonisch mit schwulen Männern um als die Nazis. Die rechtlichen und atmosphärischen Liberalisierungen seit 1969 fielen – auch in der DDR – stets nur halbherzig aus. Teil XXIII der Serie „50 Jahre neues Deutschland“  ■ Von Arne Fohlin

Neunzehnhunderteinundsiebzig ließ der Frankfurter Regisseur Holger Mischwitz, heute viel besser bekannt als Rosa von Praunheim, erstmals seinen später legendären Film vorführen. Zur Premiere kamen vorwiegend junge Männer aus studentischen Kreisen. Der Titel der Produktion klang sperrig: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Dessen Inhalt kam einer Provokation gleich. Erstens hatte er das Thema Homosexualität selbst zum Gegenstand, und zwar ohne ihn zu verpönen; zweitens aber zeigte er mit dem Selbstbewußtsein der aufbrüchigen Zeit die real existierende schwule Szene so, wie sie ist und nicht gezeigt werden wollte: verklemmt, zickig, angepaßt, parfümiert, duckmäuserisch. Aber vor allem zeigte der Film Männer, die sich küssen, und Kerle mit ondulierten Frisuren: keine verzauberten Engel, die auf Erlösung durch den Prinz warten.

Praunheim und sein Streifen machten Karriere. Nicht nur verstörte er die älteren Homosexuellen, die sich durch das in der Tat ja nicht besonders professionelle Epos beleidigt sahen. Nein, so kraß, so realistisch wollten sie sich nicht in der Öffentlichkeit repräsentiert sehen. Die (heterosexuellen) Achtundsechziger waren nicht minder irritiert, wenn sie das Werk überhaupt gesehen haben. So hatten sie sich die Opfer der sexuellen Repression nicht vorgestellt. Zuletzt fühlte sich der Bayerische Rundfunk auch noch veranlaßt, die bundesweite Ausstrahlung des Films in seinem Gebiet zu verhindern.

Am Ende hatte nur einer gewonnen: der Regisseur. Denn überall dort, wo „Nicht der Homosexuelle ...“ gezeigt wurde, gründeten sich schwule Aktionsgruppen. Solche, die Öffentlichkeit nicht scheuten, sondern im Gegenteil bewußt suchten: Seht her, wir sind schwul und sind auch noch stolz darauf. Vor allem in Berlin, nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Viermächtestatus auch deshalb bei schwulen Emigranten aus Westdeutschland beliebt, weil sie damit auch der Bundeswehr entkommen konnten, hier in dieser Frontstadt gründeten sich besonders viele Homogruppen. Sie hatten keinen Sinn für ihre Quasiväter, die Homosexuellen, die während der fünfziger, sechziger Jahre schon aus Angst vor dem Staatsanwalt konspirativ arbeiten mußten.

Die jungen Homos ignorierten den stillen und ängstlichen Kampf um kleine Netzwerke, um kleine Listen wider die Zensur oder um die beste Art, nicht als homosexuell erkannt und diffamiert zu werden. Sowohl in der BRD als auch in der DDR mögen die fünfziger und sechziger Jahre wirtschaftswunderlich genannt werden – für Schwule (wie die sich noch heimlicher erkennenden Lesben) waren es bleierne Jahre. Daß bis 1969 mehr schwule Männer zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden als während des NS-Regimes, war damals – wie heute – kein Thema. Die aufrührerischen, studentischen Homokader sahen in den Älteren nur Schwule, die sich versteckten, auf öffentlichen Toiletten schnellen Sex suchten und nichts so scheuten wie einen öffentlichen Auftritt. Das Selbstbild derjenigen, die das Dritte Reich eben überlebten und in den fünfziger Jahren lernen mußten, daß sie laut Bundesverfassungsgericht zu Recht von den Nazis verfolgt wurden, war alles andere als positiv. Sie orientierten sich an Literaten wie Hans Henny Jahnn und Hubert Fichte – Autoren, deren Geschichten, sexuell gefärbt, allererst aus der Welt der Verschrobenen, der Parias und Abseitigen berichteten; sie hörten Musik von Zarah Leander (“Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“) und Marlene Dietrich (“Sag mir, wo die Blumen sind“) und träumten, selbst einmal im Scheinwerferlicht auf der Bühne zu stehen, endlich einmal umjubelt, vergöttert und verehrt. Sie schufen sich Ersatzwelten, weil die echte Welt keinen Platz bereithielt.

Am Ende der neunziger Jahre scheint diese Misere überwunden. In den meisten deutschen Städten finden alljährlich Christopher-Street-Demonstrationen (CSD) statt, zur Erinnerung an die Tunten, die sich Ende Juni 1969 militant gegen Polizeirazzien zu wehren begannen. An diesen Umzügen nehmen Hunderttausende teil. CSD ist das zum Kürzel geronnene Verständnis eines Lebens ohne Minderwertigkeitsgefühl als Schwuler oder Lesbe. Es gibt inzwischen in Homometropolen wie Köln oder Berlin schwulesbische Netzwerke: Lebensmittelläden, Autowerkstätten, Buchläden, Arztpraxen und Apotheken und Kneipen sowieso – Läden, die von Homosexuellen selbst betrieben werden und in denen schwule und lesbische Kundschaft willkommen ist.

Und trotzdem irren die Autoren, die seit etwa fünf Jahren behaupten, in den meisten deutschen Familien sei ein schwules, ein lesbisches Coming-out kein Drama mehr, sei Homosexualität nichts, was Anlaß jugendlicher Sorgen sein könnte.

Vielleicht hat die Furcht, ein Schwuler, eine Lesbe zu sein, nicht mehr diesen Furor wie bei den homosexuellen Vorfahren der fünfziger Jahre. Aber das mag daran liegen, daß fast jede moderne TV-Serie eine homosexuelle Figur besetzt hält, das mag damit zu tun haben, daß es keine Talkshow gibt, ob nun „Ilona Christen“, „Fliege“, „Arabella“ oder „Boulevard Bio“, in der Homosexuelles nicht positiv verhandelt worden ist – zumal es eben öffentlich wahrnehmbare Enklaven gibt, wie in Berlin oder Köln.

Tatsächlich berichten Psychologen und Seelsorger aus Sexualberatungsstellen oder wie jüngst vom Kirchentag, daß es für viele junge Männer und Frauen immer noch eine traumatische Last bedeutet, sich selbst als homosexuell zu erkennen. In erster Linie verbirgt sich dahinter die Angst, das Familienziel – nämlich ein heterosexuelles Leben – zu verfehlen und damit die Liebe der Nächsten, der Eltern vor allem, einzubüßen.

Eine solche Konstellation ist freilich typisch deutsch – und wurde auch durch die fünfzigjährige demokratische Entwicklung der Bundesrepublik kaum angegriffen. Auch in anderen Ländern West- und Mitteleuropas gilt Homosexualität nicht eben als tugendhaft, aber in Deutschland kommt das Erbe des Nationalsozialismus hinzu. Das Verdikt trifft zunächst alle Männer, die ihresgleichen Wärme und Begehren entgegenbringen. Wer als SS-Mann als homosexuell erwischt wurde, mußte mit der Todesstrafe rechnen. Dieses Verständnis vom Manne, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie ein Windhund, konnte selbst die Studentenbewegung der sechziger Jahre nicht gänzlich knacken. Zumal der nazistische Paragraph 175 bis 1969 Gültigkeit behielt.

Noch die Kießling-Affäre aus der Anfangszeit der Regierung Helmut Kohls zeugte von dieser Homophobie. Der Bundeswehrgeneral wurde suspendiert, weil er in schwulen Lokalen verkehren solle. Damit sei er erpreßbar, hieß es seitens der Geheimdienste. Mit Homosexualität zu erpressen ist freilich nur jemand in einer Gesellschaft, die diese sexuelle Orientierung für verpönt oder schandhaft hält – und deren Protagonisten zur Geheimhaltung zwingt. Kürzlich verweigerte der sozialdemokratische Verteidigungsminister Rudolf Scharping einem schwulen Bundeswehrmajor seine Solidarität. Von der Hardthöhe hieß es nur, dieser Mann sei nicht dazu geeignet, Rekruten auszubilden. Der Major, dessen Leumund in fachlicher und menschlicher Hinsicht bislang untadelig war, wagte es lediglich, aus seiner Liebesbeziehung zu einem Mann kein Hehl zu machen. Der Fall hätte in den Niederlanden, Dänemark und Schweden einen öffentlichen Aufschrei der Entrüstung verursacht, dort gilt ausdrücklich ein Diskriminierungsverbot homosexuellen Militärs gegenüber.

In Deutschland bewies der Vorfall nur: Die Moral Homosexuellen gegenüber hat sich gegenüber den fünfziger Jahren nur gering verändert. Das Motto lautet immer noch, vor allem in den Milieus, die wirklich Macht ausüben, also beim Militär oder in den obersten Etagen von Banken: Wenn du es schon bist, sprich nicht drüber. Woran sich allein drei Minister der letzten Kohl-Regierung auch gehalten haben. Kein Wunder, daß es, noch ein Unterschied zu Schweden oder Holland, bei uns keine öffentlichen Figuren gibt, die schwul oder lesbisch sind und trotzdem in Heterokreisen Respekt genießen. Der Schwule – der darf es nur zum Talkmaster bringen, die Lesbe zur TV-Kommissarin. Mehr Normalität ist nicht. Sie sind einfach weiter unerwünscht.

Arne Fohlin, 39, ist gebürtiger Schwede und lebt als freier Autor in Cuxhaven. Er hat sich für seine Landsfrau Zarah Leander niemals erwärmen können.