Badende Gesellschaft

■ Schrill, aber langweilig: Castorfs Version von Dostojewskis „Dämonen“

Es ist noch keinen Monat her, da bekam Ex-Bundeskanzler Kohl Sympathiebekundungen von ganz unerwarteter Seite: Theatermacher Frank Castorf, sonst kaum im Verdacht praktizierender Christdemokrat zu sein, bekannte sich zum „Kämpfer Helmut Kohl, der auf den Eierwerfer in Halle zustürmt und sich mit ihm prügeln will“. Für den Ex-Steinewerfer Joschka Fischer, der Strafanzeige stellte, weil er einen Farbbeutel abbekommen hatte, blieb da nur Verachtung. Woher rührt diese verblüffende Altersliebe?

Haltungen und Obsessionen

Castorf kämpft gegen das Feyerabend-Credo des „westeuropäischen anything goes„ und hält Ausschau nach Haltungen und Obsessionen. In der Realpolitik fand er beides – seltsam genug – beim wütenden Kohl. Für die Bühne knöpfte er sich Dostojewskis Roman Die Dämonen vor. Castorf präsentiert sich dabei all jenen, die es immer noch nicht wußten, als der große „Selbst-Hasser“ des Theaters. Er bewundert, was er selbst nicht hat; er attackiert, was er selbst produziert. Denn: Soviel anything goes auf einen Haufen, soviel orientierungslose Beliebigkeit gab's lange nicht. Dabei hatte alles so gut angefangen.

Palaver in Pappbungalows

Gutsbesitzerin Warwara Stawrogina (Silvia Rieger) lädt ein zum abendlichen Fernsehglotzen. Zwischen Wohnzimmergemütlichkeit und trostlosem Altersheimambiente flezt sich Hauslehrer Stepan (Henry Gübchen) in ein Ledersofa und bepißt sich förmlich vor Lachen über das Programm. Der Zuschauer blickt auf die Fensterfront eines Pappbungalows (Bühne: Bert Neumann), in dem alsbald auch die Freunde des Hauses eintrudeln. Ein aufgeregtes Palaver über ungeschriebene Bücher, die notwendige Zerstückelung Rußands und den Wert Shakespeares, verglichen mit einem Paar Stiefel, geht über in einen klavierbegleiteten Striptease-Tanz. Eine Gesellschaft im Taumel der Langeweile. Und die Zigarren sind hier Ausdruck der Dekadenz, die sich auch nicht von lärmenden Kampffliegern stören läßt.

Baden im Planschbecken

Warwaras Sohn Nikolai (Martin Wuttke) zerstört diese selbstgefällige Ruhe, indem er tuntig auf Hintern klatscht und den alten Gaganow im wahrsten Sinne des Wortes an der Nase herumführt. Keine Frau, die der Schwerenöter sich nicht zur Brust nimmt, wenn er sie nicht schon besessen hat. Als dann auch noch Pjotr, Stepans Sohn, auftritt, geht die Gesellschaft endgültig baden. Geschwind schafft die Drehbühne das dazugehörige Planschbecken herbei.

Bis zur Pause geht das ganz und gar undramatische, anti-psychologische Schau-Spiel Castorfs auf – dank des brillanten Ensembles. Hübchens chaplinesker Kampf mit dem Liegestuhl, Herbert Fritsch als souffleurabhänggiger Selbstmörder Krillow, Astrid Meyerfeld als donnernd-fauchende Marija und Milan Peschel als kühl-parlierender Pjotr mit Mafia-Manieren – so oft sie einem vor Augen halten, daß das alles nur Theater ist, sind sie dabei und an Einfallsreichtum schwer zu überbieten.

Wie komm' ich hier wieder raus?

Nach der Pause allerdings läßt sich Castorfs Konzeptlosigkeit nicht mehr kaschieren. Das Stück läuft ihm nicht nur formal, sondern auch inhaltlich aus dem Ruder. Der Mörder Fetka, das hatte Camus in seiner Bearbeitung deutlich gemacht, läßt sich nicht einfach streichen, ohne das Geschehen ins Unverständliche zu verzerren. Und die Angst vor tieferer Bedeutung läßt sich nicht immer mit dudelnder Hintergrundmusik bekämpfen.

Als Martin Wuttke endlich einmal die Schallplatte zertrümmert, ist es längst zu spät. Castorf hatte sich gnadenlos verstrickt und sich im Nato-Dilemma eingenistet, das da lautet: Wie komm' ich hier wieder raus?

Joachim Dicks