Anders und Julius

Sie sind Brüder, Bauern, unverheiratet und leben auf dem Elternhof, wo sie geboren sind, in Jütland, Dänemark  ■ Fotos: Nicolai Howalt/Ragnarok, Text:
Søren Ryge Petersen

Jeden Morgen und jeden Abend, den ganzen Sommer lang, geht Anders an den Pflaumenbäumen vorbei und ruft nach den Kühen: „Bosch, bosch, bosch!“ schreit er so laut, daß man es unten auf der Wiese hören kann. Dann wartet er, bis die Kühe auftauchen. Er beobachtet ihr Verhalten genau. „Es ist doch merkwürdig, daß die Schwarzweiße vor der Roten geht. Normalerweise geht sie immer hinter ihr“, stellt er fest, als er dieses Bild sieht.

Eine Kuh hat vier Zitzen, und Anders hat sieben Kühe, die selbstverständlich auch Julius gehören. Jeden Morgen wäscht er die 28 Zitzen in lauwarmem Wasser und schaut nach, ob alles in Ordnung ist. Dann melkt er. 20.380mal im Jahr berührt er die Kuhzitzen, und jede kleine Veränderung an ihrer Oberfläche und Temperatur wird genau registriert, weil sie eine große Bedeutung hat. Für die Kuh, für die Milch und für Anders.

Die unerheirateten Brüder Julius und Anders wohnen auf dem alten Elternhof, wo sie geboren sind. Seit 65 Jahren arbeiten sie jeden Tag zusammen. Julius auf dem Traktor, Anders hinten auf dem Anhänger, der Hund daneben und die Kühe dahinter. Ihr Leben und ihr bäuerlicher Alltag verlaufen ohne äußerliche Dramatik, aber sie sind von großer Intensität.

Falls Anders eine Binde auf die Augen bekäme. man ihn in den Stall führte und zehnmal herumdrehte und ihn danach eine Zitze berühren lassen würde, wüßte er sofort, welche der Kühe er berührt, wann sie zuletzt krank war, ob sie nach links oder rechts treten würde, wieviel Milch sie an dem Tag letztes Jahr gab, als er die großen Schmerzen im Rücken und im Bein hatte und er es kaum schaffte, sie zu melken.

Anders ist ein hübscher Mann, sagen die Leute. Julius sagt von sich selbst: Ich bin häßlich. Er sieht nicht, daß sich die Sonne des Sommers und die ganze Lust und Last des Lebens in seinem Gesicht spiegeln. Er schaut nie in den Spiegel. Außer an dem Tag, als der Bauch immer dicker wurde. Darmverschluß. Julius wurde unter lokaler Betäubung operiert. Zwei Tage danach ist er nach Hause gefahren. So konnte er bei der Ernte dabeisein.

Hier am Küchenfenster sitzen sie jeden Tag. Morgens, mittags, abends und manchmal zwischendurch. Der Baum vor dem Fenster wächst immer weiter. Wenn er zu groß wird, schneiden sie ihn ab. Jeden Morgen und jeden Abend holen sie einen Eimer voll Getreide aus der Scheune. Schließen die Scheunentür, damit die Tauben nicht hereinfliegen, und leeren den Eimer im Stall bei den Kühen aus. Vor vielen Jahren bekam Julius ein paar Taubenkücken. Inzwischen sind es dreihundert. Anders schimpft über den Taubendreck. Julius schimpft über Anders, weil der über seine Tauben schimpft.

In diesem Schlafzimmer hat früher die Mutter geschlafen. Hier starb sie vor 15 Jahren. Jetzt schläft Julius hier, neben ihm der Hund. Anders schläft oben in der Kammer. Julius ist müde, verdammt müde. Die ganze Zeit hat er Lust, sich hinzulegen. Es tut ihm im Bauch weh, in den Armen, in den Beinen. Nach jeder Arbeit bekommt er Lust, sich hinzulegen.